Wollust - Roman
blauen Himmel und Sonne im Angebot. Es war kühler geworden, aber weit entfernt von kalt, und was Gabe wirklich überraschte, war das Grün in der Stadt. An der Ostküste wurde aus der Herbstfrische längst eisige Winterkälte – Rina hingegen hatte einen Garten . Total verrückt.
Nicht so verrückt wie der Anruf von seinem Vater. Chris’ Stimme klang monoton. »Du hast Unterlagen, die mir gehören.«
Keine Einleitung. Gabe hatte den Anruf erwartet, aber der Klang der Stimme seines Vaters brachte ihn immer aus dem Gleichgewicht. »Stimmt«, antwortete er. »Wohin soll ich sie schicken?«
»Ich traue der Post nicht. Ich komme nach Los Angeles und hole sie ab. Außerdem würde ich dich gerne sehen. Wie sieht dein Terminplan aus?«
»Außer montags und dienstags von zehn bis zwölf hab ich immer Zeit.«
Donatti schwieg einen Moment. »Du hast die Schule geschmissen?«
»Rina hat mir einen Privatlehrer besorgt. Ich werd zu Hause unterrichtet, das ist toll. Nächsten Juni sollte ich mit der Highschool fertig sein.«
»Ich habe keine Abbuchungen für einen Privatlehrer auf deinen Kreditkarten entdeckt.«
»Es sind nur ein paar Stunden pro Woche, Chris. Die bezahle ich bar.«
»Was läuft da zwischen zehn und zwölf montags und dienstags?«
»Da habe ich Klavierunterricht bei Nick an der USC.«
Eine Pause. »Nick wie in Nicholas Mark? Immer noch?«
Donatti klang leicht angesäuert. Gabe lächelte. »Du bist herzlich eingeladen, vorbeizukommen und zuzusehen, wie er mich an den Eiern packt.«
»Das solltest du ja kennen.«
»Im Vergleich zu dir ist er harmlos.«
»Kein Grund, garstig zu werden. Morgen um zwei bin ich da.«
Morgen war Donnerstag. »Mit dem Bus schaff ich’s nicht bis zwei nach Hause. Du kannst mich an der Uni treffen.«
»Gut. Ich rufe dich an, wenn ich da bin.« Donatti legte auf.
Laut Gabes Handy hatte das Gespräch eine Minute und achtundzwanzig Sekunden gedauert. Keine bemerkenswerten Vorfälle, aber ein Satz war ihm im Gedächtnis geblieben.
Außerdem würde ich dich gerne sehen.
Kein »Ich muss dich sehen«, sondern ein »Ich würde dich gerne sehen«.
Es sollte keinen Unterschied machen, aber genau das tat es. Er fühlte sich deshalb richtig gut.
Sein Handy klingelte um Punkt zwei Uhr. »Ich sitz draußen in einem Café auf dem Campus«, informierte Gabe seinen Vater. »Ist das okay?«
»Kein Problem.«
Gabe beschrieb ihm den Weg. Fünf Minuten später sah er Chris Donatti auf sich zukommen – groß, gebräunt, breitschultrig, unwiderstehlich. Nach diesem Mann drehten sich die Köpfe um, egal wo er war, und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Jedes Mal, wenn er an einem weiblichen Wesen vorbeiging, blickte es ihm hinterher. Chris trug ein weißes Hemd, eine braune Cordhose und ein Tweedjacket. Er sah aus wie der Traum einer jeden Studentin. Es gab viele Dinge, die
man an Chris hassen konnte, aber irgendwo aus einem Bauchgefühl heraus war Gabe stolz, Chris’ Sohn zu sein.
Sein Vater – im Guten wie im Schlechten.
Als Chris den Tisch erreicht hatte, streckte er eine Hand aus. Gabe überreichte ihm den Umschlag, und Chris setzte sich hin und öffnete ihn.
»Hast du Hunger?«, fragte Gabe.
»Bring mir einen Kaffee.«
»Stört’s dich, wenn ich was esse?« Wortlos zog Donatti einen Hundertdollarschein aus der Tasche. »Ich hab nicht um Geld gebeten.«
»Nimm’s einfach.«
»Ich komm wirklich klar.«
»Sei kein Idiot. Bietet dir jemand Geld an, dann nimmst du’s gefälligst. Jetzt halt die Klappe und lass mich das hier lesen.«
So viel zum Thema Sentimentalität. Gabe nahm den Schein, stellte sich in der Schlange an und kaufte einen Burger, Pommes, eine Cola light und einen Kaffee. Er setzte sich wieder an den Tisch und begann zu essen. Kurz darauf starrte Chris ihn an. Gabe aß nicht besonders geräuschvoll, aber sein Dad war in einer dieser Stimmungen , wo ihn alles störte.
»Äh, vielleicht ess ich lieber an einem anderen Tisch weiter.« Er zog an den Tisch neben seinem Vater um, aß ungestört und las dabei Evelyn Waugh – eine von Rinas Lieblingsschriftstellerinnen. Es war ein wunderschöner Tag, und er fühlte sich glücklicher als in den ganzen Jahren zuvor. Er wusste, dass er zur Ruhe gekommen war, weil seine Pickel endlich abgeheilt waren. Wie toll fühlte sich das an, einen Hamburger zu mampfen und dabei ein tolles Buch zu lesen. Das Einzige, was noch fehlte, war vielleicht ein bisschen Mozart – nur Streicher, und bitte, ganz bestimmt
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