Wollust - Roman
sich auf. Manchmal begleitete Hannah ihn. Er liebte Opern – der Hauptgrund, warum er Deutsch und Italienisch lernte. Er wollte herausbekommen, wie man die Worte mit Musik vermischen konnte, und der einzige Weg, das zu bewerkstelligen, war, die Sprache des Librettos selbst zu sprechen.
Die meiste Zeit verbrachte er am Klavier. Musik war immer seine Rettungsleine gewesen, aber in seinem Spiel hatte auch
etwas Verzweifeltes und Gehetztes gelegen. Durch seinen Verbleib bei den Deckers und durch den Unterricht von Nicholas Mark entdeckte Gabe echte Freude am Lernen. Jedes Treffen mit Mark brachte ihn seinem Ziel, ein richtiger Pianist zu werden, einen Schritt näher. Er konnte jetzt ein bisschen langsamer vorangehen, ein bisschen genauer zuhören, ein bisschen länger vor der Tastatur sitzen bleiben, weil er zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Berechenbarkeit spürte. Alles fand pünktlich und ohne dramatische Untermalung statt. Nicht dass Drama grundsätzlich etwas Schlechtes war, aber es war besser in der Kunst aufgehoben als im wirklichen Leben. Er hatte immer jede Menge Freiheiten genossen – jetzt war er frei ohne Angst. Diese Autonomie machte ihn zu einem großzügigen Menschen. Er ging oft mit Hannah zu den Chorproben, um die Sänger zu begleiten, diesmal aus purer Freundlichkeit. Als der Abschluss nahte, bat Mrs. Kent ihn, an diesem Abend etwas Besonderes zu spielen. Nach vielen Schmeicheleien durch Mrs. Kent und Hannah gab er nach.
Warum auch nicht?
Ursprünglich wollte er etwas technisch Anspruchsvolles wie Rachmaninow spielen – etwas, das das Publikum umhauen würde. Aber dreißig Minuten vor Beginn des Abendprogramms änderte er seine Meinung.
Das hier war kein Klavierkonzert, sondern eine Feier . Die Leute waren glücklich. Manche Eltern liebten ihre Kinder tatsächlich und waren stolz auf ihre Leistungen.
Im letzten Moment fand er in der Synagoge, in der die Zeremonie stattfinden sollte, einen laufenden Computer und Drucker und lud achtzehn Seiten Partitur von Liszts »Ungarischer Rhapsodie No. 2 in cis-Moll« herunter. Er und die meisten Leute kannten das Stück, weil es in unzähligen alten Zeichentrickfilmen verwendet wurde, sobald es da zu einer Verfolgungsjagd kam. Er wusste, er konnte es problemlos nach Noten
spielen. Als er an der Reihe war, legte er die ersten fünf Seiten auf den Notenhalter und beauftragte Mrs. Kent damit, ihn mit den folgenden zu füttern, während er jedes einzelne Blatt, das zu Ende gespielt war, mit der Hand gen Boden wegwischte. Durch die herumfliegenden Seiten, vor allem gegen Ende, als das Tempo mächtig anzog, bekam das Ganze einen komischen Aspekt, den er mit großem Talent in seine Vorführung einbaute. Alle lachten. Er machte ein glückliches Publikum noch glücklicher. Und er lernte so eine wichtige Lektion. Bei einem Auftritt vor Publikum ging es nicht nur um fachliches Können, sondern auch um Unterhaltung.
Er hörte nie auf, über seine Eltern nachzugrübeln. Es war falsch, sie mit den Deckers zu vergleichen, aber er tat es trotzdem. Er pflegte ihr verrücktes Verhalten mit einer dunklen Tiefsinnigkeit zu rechtfertigen, aber das war Blödsinn. Die Deckers waren standhafte Leute und dabei mindestens genauso, wenn nicht noch komplizierter als seine Mom und sein Dad.
Rina und der Loo hatten ihn mit Anstand bei sich aufgenommen und in ihr Leben integriert. Das wurde ihm besonders deutlich gemacht, als sie darauf bestanden, dass er sie zu Sammys Abschlussfeier seines Medizinstudiums begleiten sollte. Er war sogar Gast bei Sammys Hochzeit. Und sie nahmen ihn mit nach Israel, als sie Hannah auf ihr College brachten, zahlten für sein Ticket, besorgten ihm ein eigenes Hotelzimmer und einen eigenen Stadtführer. Er und sein Führer reisten durchs ganze Land, auch nach Petra in Jordanien und zu den Pyramiden in Ägypten. Er erforschte alte Kulturen und fand heraus, dass das Klischee immer noch galt: Das da draußen war die große weite Welt.
Keiner der Deckers versuchte, ein Ersatzelternteil zu sein. Sie waren Vermittler, und weil sie so freundlich ihm gegen über waren, bemühte er sich, ihnen nicht auf die Nerven zu gehen. Nein, Rina war nicht seine Mutter und der Loo nicht
sein Vater. Aber er wusste ganz genau, dass es in dieser Phase seines Lebens weitaus besser war, Rina und den Loo zu haben als Mom und Dad.
Mitten im November war New York überflutet mit gefrierendem Regen, während Chicago den ersten Schnee erlebte. Los Angeles dagegen hatte
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