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Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
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Fähigkeiten, die er in der Vergangenheit entwickelt hat. Mit der Empirie erfasst man die Vergangenheit, mit der Evidenz bewältigt man die Zukunft. Wir bewegen uns durch die Welt, machen unsere Erfahrungen und ziehen daraus irgendeine Erkenntnis. Die Erkenntnis versucht man abzusichern, dann fühlt man sich sicher und geht weiter. Der Weg führt zu einer neuen Begegnung, man entdeckt ein Interesse an der Sache und hat dann eine Intuition. Diese Intuition sagt einem: Jetzt musst du hier weitergehen! Das ist kein Empirieerlebnis; das ist ein Evidenzerlebnis. Die Evidenz verschafft mir Erkenntnis. Man handelt nicht aus Erfahrung, sondern aus Erkenntnis. Vielleicht sind Sie noch gar nicht verliebt, aber Sie treffen das andere Wesen und sagen: Das hat etwas mit mir zu tun. Aus der Evidenz wird eine Erkenntnis. Alle sagen, es ginge nicht, aber Sie spüren, dass es doch gehen könnte. Es ist eine innere Überzeugung, das Richtige zu tun.
    Ausbruch aus dem Erfahrungsgefängnis
    Es gibt die kleineren Evidenzerlebnisse: Man steigt aus irgendeinem Grund in einen Zug nicht ein, und später stellt sich heraus, dass dieser Zug mit zwei Stunden Verspätung ankommt. Und es gibt die schicksalhaften Evidenzerlebnisse: Man studiert nicht dies, sondern das andere. Man fängt nicht hier, sondern dort mit der Arbeit an.
    Oftmals lässt man sich aber auch von Ratschlägen aus der Umgebung beirren. Dann kauft man ein Haus, zu dem einem alle geraten haben. Oder beginnt eine Ausbildung, die zwar die Eltern oder die Lehrer für zukunftsweisend halten, aber die einen selbst eigentlich nicht interessiert. Viele Menschen stecken in einem Erfahrungsgefängnis, das andere für sie errichtet haben. Manche bauen sich ihr eigenes. Sie müssen erst lernen, zwischen den Gitterstäben der Empirie hindurchzuschauen, um hinter dem weiten Horizont neue Handlungsfelder zu entdecken. Manchmal schafft man es erst Jahre später, empirische Entscheidungen zu revidieren und sich den evidenten zuzuwenden.
    Ich erinnere mich an einen Mann, der neben mir im Zug saß, ein Rentner, der erzählte, er habe vierzig Jahre lang einen ungeliebten Beruf ausgeübt. Er hätte immer gern Medizin studiert, aber kriegsbedingt nur einen Volksschulabschluss gehabt. Und da er schon sehr früh für seinen Lebensunterhalt sorgen musste, habe er es sich nie leisten können, den Schulabschluss nachzuholen. Deswegen habe er erst jetzt als Rentner angefangen, sich mit Homöopathie zu beschäftigen. Dann strahlte er mich an: Jetzt hole ich nach, worauf ich vierzig Jahre verzichten musste!
    Da hat jemand fast sein ganzes Leben gebraucht, um endlich sein Leben zu leben. Tragisch. Aber zum Glück dann doch noch den Mut und die Kraft gefunden, sich darauf einzulassen. Das Wichtigste: Er hat wenigstens das Evidenzerlebnis gehabt. Für ihn war immer evident: Medizin ist sein Metier! Bei anderen Menschen ist manchmal das Gespür für Evidenz fast ganz verschüttet. Oder sie haben es noch nie erlebt. Denn obgleich jeder Mensch mehr oder weniger bewusst die Fähigkeit dazu hat, gibt es Evidenzerlebnisse nicht für jeden gleichermaßen. Man kann sich dafür sensibilisieren, man kann empfänglich werden für Evidenzerlebnisse. Nur, wie geht das?
    Dazu eine kleine Geschichte: Mir hat vor vielen Jahren mein damaliger Chef, Helmut Nießner, der später auch Patenonkel meiner ältesten Tochter wurde, sehr imponiert: Seine damals heranwachsende Tochter hatte sich mit einem jungen Mann angefreundet, der aus Sicht eines fürsorglichen Vaters eher ein Graus war. Aber statt der Tochter Vorhaltungen zu machen und sich über die Frisur, die Kleidung oder gar die gesamte Lebensweise ihrer Jugendliebe zu empören, ging er auf – für die damalige Zeit – geradezu sensationelle Weise mit der Situation um: Er freute sich für die Tochter, gratulierte ihr zu dieser Erfahrung und lud das frisch gebackene Paar zu einem gemeinsamen Urlaub mit der ganzen Familie ein. Im Urlaub fand die Tochter dann von selbst heraus, was der Bursche eigentlich für ein Typ war, und damit war die Beziehung beendet. Der Vater hat einfach darauf vertraut, dass die Charakterschwächen des jungen Mannes, die für ihn evident waren, auch der Tochter evident werden würden. Aber er hat sich eben auch dafür geöffnet, im Urlaub möglicherweise die Vorzüge des jungen Mannes zu entdecken – und seinerseits von der Evidenz erfasst zu werden, wie die Tochter sie erlebt hatte. Er hat sich der Situation erlebend gegenübergestellt.
    Genau darum

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