Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
Gottlieb Fichte formuliert hat, gewinnt man Erkenntnisse, durch die man in Zukunft das Leben kreativer, schöpferischer, tatkräftiger, einsichtsvoller gestaltet. Auf diese Weise sind mir viele wunderbare Dinge widerfahren, mit denen ich nie gerechnet hatte – eben weil ich gar nicht erst gerechnet habe.
Wenn ich in diesem Buch also das »aus der Erfahrung Erkannte« beschreibe, dann standen die Lerneinheiten in keinem Stundenplan, gab es kein Klassenzimmer und keine ausgebildeten Pädagogen. Ich habe gelernt, was auf den Tisch kam. Manche Lektion habe ich mir selbst eingebrockt, manche war schwer verdaulich und brauchte etwas länger, bis ich sie verstehen konnte, und bis heute weiß ich nicht zu sagen, welches das Hauptgericht und welches das Dessert war – oder ob ich überhaupt schon über die Vorspeise hinausgekommen bin. Selbst wenn in der Rückschau auf meinen Weg der vergangenen Jahrzehnte alles scheinbar so linear, strategisch und zielgerichtet aussieht.
Übrigens, die Begleitmusik zu solcher Art des Hinwegschreitens klingt selten harmonisch. Den Refrain dazu kennen Sie schon. Er lautet: »Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!«
Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.
Kurt Tucholsky
K APITEL 1 Der Anfang
oder wie ich wider Willen ein Unternehmen gründete
Anfang der 1950er-Jahre wurden zwei Schuhverkäufer nach Afrika geschickt. Sie sollten den Markt erkunden und nach drei Tagen ein Telegramm über ihre ersten Eindrücke schicken. Telegrafiert der eine: »Nullmarktchancen, alle laufen barfuß.« Telegrafiert der andere: »Riesenmarktchancen, noch keiner trägt Schuhe.«
Das ist eine in der Wirtschaftswelt sehr beliebte Geschichte, die ich 1981 bei dem Vortrag eines Franzosen im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Zürich aufgeschnappt habe. Sie illustriert, wie sich das alte Motiv vom halbleeren oder halbvollen Glas auch im unternehmerischen Denken widerspiegelt: Der nicht-unternehmerisch Disponierte sieht das Problem; der unternehmerisch Disponierte sieht die Gestaltungsmöglichkeit.
Der Vortrag hat mich damals sehr beeindruckt, obgleich ich alles nur in der Simultanübersetzung verfolgen konnte, weil ich kein Französisch verstehe. In Frankreich hatte gerade François Mitterand als erster Sozialist die Regierung übernommen. Der Referent berichtete, dass viele Unternehmen diesen Regierungswechsel als Bedrohung erlebten. »Aber«, sagte er, »wir haben es uns in unserem Unternehmen zur Angewohnheit gemacht, aus einer Bedrohung ein Problem zu machen und aus einem Problem eine Gestaltungsmöglichkeit.« Da leuchtete mir spontan ein: Es gibt keine Probleme; es gibt nur Herausforderungen. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gelernt, dass die Chinesen für die Chance und die Krise ein und dasselbe Schriftzeichen nutzen.
Wenn man sich dieses Zusammenspiel von Krise und Chance zur Lebenshaltung macht, dann fühlt man sich nie bedroht. Man hadert auch nicht mit seinen Fehlern, obwohl man ständig etwas falsch macht. Aber Fehler werfen einen nicht aus dem Gleis. Man muss dann eben anders weitermachen. Fertig. Allerdings sollte man aufpassen, dass man nicht übermütig wird. Große Risiken sollte man nur eingehen, solange man sicher ist, das eine Entscheidung reversibel ist. Leider können viele Menschen nicht gut unterscheiden, was reversibel und was irreversibel ist. Dabei ist das eigentlich ganz einfach: Solange ich auf meine Fähigkeit vertrauen kann, eine Lösung zu finden, wenn etwas schief geht, solange ist eine Entscheidung reversibel. An dieser Stelle kommen Evidenz und Empirie zusammen.
So war es auch im Sommer 1973.
Die Gründung des »Deutschen Drogisten-Verbandes« lag fast auf den Tag genau hundert Jahre zurück. Am 11. April 1873 hatten sich bei einem Delegiertentreffen die deutschen Drogisten in Berlin zusammengeschlossen, vor allem in Abgrenzung zu den zahlreichen Apothekern. Denn im 19. Jahrhundert wurden Tabak, Spirituosen, Gewürze und selbst Konditoreiprodukte als »Apothekerwaren« bezeichnet. Heilkräuter durften generell nur in Apotheken verkauft werden. Der Verband machte politische Lobbyarbeit im Deutschen Reichstag, und die Gesetze änderten sich. Schon bald reichte das Drogerie-Sortiment von Zahnpulver, Hautcreme und Schuhputzzeug über Heilkräuter und Backpulver bis hin zu
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