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Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
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Treibstoff für die damaligen Automobile. Bald entstanden die ersten Reformhäuser. Die Menschen begannen den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen der Industrialisierung entgegenzuwirken. Ob Pfarrer Kneipp als Vertreter der Naturheilbewegung oder Eduard Baltzer, der Vorreiter des Vegetarismus – man suchte einen würdevollen Umgang mit Mensch und Tier. Die »Lebensreformer« entwickeln neue Nahrungsweisen mit Vollkornbrot, pflanzlichem Fleischersatz, Fruchtsäften und Heilkräutern. Auch rund um die neu aufkommende Fotografie gab es alle Materialien, die für die Entwicklung von Fotos nötig waren, in der Drogerie.
    Schon drei Jahre zuvor, nämlich 1870, hatte mein Urgroßvater in Heidelberg eine Drogerie eröffnet, die mein Vater als junger Mann in den 1920er Jahren übernahm. Er steuerte den Laden in der Heidelberger Hauptstraße, Ecke Märzgasse, durch die Wirren der Inflationszeit, die Jahre des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, in den er wegen starker Arthrose glücklicherweise nicht eingezogen wurde. Nach dem Krieg eröffnete er 1950 die erste Filiale, auf die in den bald einsetzenden Wirtschaftswunderjahren zahlreiche weitere folgten.
    Ich bin als Kind immer im Laden herumgesprungen und habe mir schon als Sechsjähriger einen weißen Kittel gewünscht. Damals verkaufte man die meiste Ware offen, unverpackt. Den intensiven Geruch nach Seifen, Salben und Kräutern habe ich noch heute in der Nase.
    Eine Idee liegt in der Luft
    1973 hatten sich die Zeiten gewandelt. Ich war Ende zwanzig und hatte eine Idee. Was mir fehlte, war Geld und Unterstützung. In mir gärte schon seit einigen Jahren ein Gedanke, der mir sofort und zutiefst eingeleuchtet hatte. Ein Evidenzerlebnis, auch wenn ich es damals noch nicht mit diesem Begriff hätte fassen können. Diese innere Sicherheit ließ mich meinen Plan unbeirrbar verfolgen, obwohl alle um mich herum abrieten. Mein Vater sprach schon längere Zeit nicht mehr mit mir. Meine Schwiegereltern liefen Sturm. Keine Bank gab mir Kredit. Jeder sagte nur: »Um Gottes willen!«
    Es war niederschmetternd. Aber ich wusste, dass sie falsch lagen. Die meisten Menschen betrachten die Welt nicht aufgrund wahrnehmbarer Fakten, sondern aufgrund ihrer Vorurteile. Erst im Nachhinein meinen sie, sie hätten es genauso gesehen und gemacht.
    Dabei war ich keineswegs der einzige, der wahrgenommen hatte, dass die Branche vor einem substantiellen Strukturwechsel stand. 500 Kilometer nördlich von Karlsruhe, wo ich meinen ersten eigenen Laden eröffnete, war fast zeitgleich ein ebenfalls junger Drogist auf dieselbe Idee gekommen: Als ich im August 1973 starten wollte, erfuhr ich, dass in Hannover schon im März 1972 Dirk Roßmann seinen »Markt für Drogeriewaren« eröffnet hatte. 1975, anderthalb Jahre nach meinem Beginn in Karlsruhe, eröffnete Anton Schlecker in Kirchheim unter Teck seinen ersten Drogeriemarkt. Rossmann und dm sind heute, vierzig Jahre später, jeder auf seine Weise noch dabei. Schlecker hat sich 2012 verabschiedet, aber das ist eine andere Geschichte.
    Die Idee lag in der Luft. Sie war – rückblickend lässt sich das leicht sagen – in keiner Weise so abwegig, wie damals alle meinten. Der gesamte Einzelhandel war im Umbruch. Das, was uns heute so selbstverständlich erscheint – der Supermarkt nämlich –, war bis weit in die 1950er Jahre in Deutschland etwas völlig Unbekanntes. Lebensmittel kaufte man in Geschäften mit kleiner Fläche und vor allem mit einer Bedientheke, über die der Kaufmann die Ware dem Kunden einzeln reichte. Erst mit dem steigenden Warenangebot in den Jahren des Wirtschaftswunders begann die Zeit der Supermärkte: Kaiser’s , Hill , Bolle oder Tengelmann machten den klassischen Einzelhändlern das Leben schwer. Deswegen wagten die beiden Brüder Karl und Theo Albrecht ein Experiment, nachdem ihre Versuche, mit vergrößerten Verkaufsflächen und verbreitertem Sortiment dem Druck der neuen Wettbewerber standzuhalten, kläglich gescheitert waren. Sie entwickelten die Idee des Discountgeschäftes: kleines Sortiment, Selbstbedienung, Warenverkauf aus dem aufgeschnittenen Versandkarton, direkt von der Palette oder aus schlichten Holzregalen, kein Kreditverkauf, keine Rabattmarken, dafür möglichst billige Preise.
    Indem sie alles wegließen, was der Einzelhandel bis dahin für selbstverständlich erachtet hatte, und sich auf Qualität und Preis konzentrierten, gewannen die Aldi-Märkte enorme Kostenvorteile, die sie an den Kunden

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