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Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
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waren der Beweis, dass nicht die Erde im Mittelpunkt aller Planeten stehe. Aber die Gelehrten hatten so viele Jahre studiert und meinten alles zu wissen, was man wissen könne. Die Wirklichkeit, die ihnen Galilei präsentierte, entsprach nicht ihrer Vorstellung von Wirklichkeit, also räsonierten sie darüber, wie Galileis Fehler zustande käme, statt einfach die Augen zu öffnen und die Fakten zu erkennen.
    Je mehr wir uns dazu entschließen konnten, hinzusehen und die Wirklichkeit wahrzunehmen, desto weniger konnten wir uns der Tatsache verschließen, dass all unsere Gleichheitsvorstellungen bloß Illusion waren.
    Es kam uns in dieser Zeit zugute, dass wir im Zuge unserer Beschäftigung mit Führung auch zahlreiche Wahrnehmungsübungen gemacht haben. Später, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, haben wir auch das professionalisiert und sind mit Professor Michael Bockemühl, einem Kunsthistoriker, einmal im Jahr ein paar Tage auf Reisen gegangen. Wir waren in London, in Amsterdam, in Weimar und an vielen anderen kulturell bedeutenden Orten.
    Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Reise nach Florenz, wo wir uns eingehend mit Michelangelos Werken beschäftigt haben. Wir standen in der Galleria dell’ Accademia vor dem David, und Bockemühl erklärte: »Der typische Mona-Lisa-Tourist schaut acht Sekunden auf die Mona Lisa. Sie haben jetzt die Aufgabe, den David dreißig Minuten zu betrachten. Es darf nicht geredet werden.«
    Sie ahnen, wie lange dreißig Minuten werden, wenn man dabei nur auf ein einziges Kunstwerk blicken darf. Irgendwann hörte man den ersten Fuß klopfen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, also vielleicht nach zehn Minuten, wurde es Professor Bockemühl zu bunt: »Ich habe zwar gesagt, Sie dürfen nicht reden, aber ich habe nicht gesagt, Sie dürfen sich nicht bewegen.«
    Also haben alle eifrig begonnen, um die Skulptur herumzulaufen, und siehe da: Plötzlich gab es erste Entdeckungen, und die halbe Stunde verging wie im Flug. Später haben wir an dieser Erfahrung den Unterschied herausgearbeitet, was es bedeutet, einen festen Standpunkt einzunehmen und etwas gemeinschaftlich von allen Seiten zu betrachten.
    Sehen lernen
    So ähnlich erging es uns in dieser Situation Ende der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre. Wir lernten sehen. Bis dahin hatten wir immer den idealtypischen Drogeriemarkt vor Augen gehabt. Davon gab es sogar Pläne. Aber in Wirklichkeit gab es ihn eben nicht. Nicht ein einziges Mal. Irgendetwas war immer anders.
    Und dann haben wir begonnen, diesen Absolutheitsanspruch zu hinterfragen. Warum soll es eigentlich überall gleich sein? Der Kunde sieht doch sowieso nur eine Filiale! Kein Kunde verhält sich so wie die Geschäftsführung; kaum einer schaut sich mehr als eine Filiale an. Und selbst wenn, dann schaut er auf die Ware, nicht auf die Regale. Er kauft in seiner Filiale ein und fertig. Dem ist es völlig schnurz, was in Konstanz los ist, wenn er in Stuttgart einkauft.
    Und wenn sich ein Kunde bei mir über die Filiale in Konstanz beschwert, dann hilft dem der Hinweis nichts, er solle doch bitte in Stuttgart oder Trier einkaufen. Da sei alles super … – Das Drogeriegeschäft ist ein lokales Geschäft. So muss man das auch denken!
    Mit der Wahrnehmung kam die Evidenz: So kann es nicht weitergehen! Die Idee der Veränderung war quasi überreif; sie wartete nur auf den Moment, an dem sie vom Baum fallen konnte.
    Eines der Schlüsselerlebnisse, aus denen ich lernen durfte, passierte in der Filiale in Ettlingen. Wir verkauften damals Parfüm und Kosmetik aus dem grauen Markt, das heißt, wir bezogen die Ware nicht über die üblichen Handelswege, weil die Hersteller ihre hochwertigen Parfüms und klassische Kosmetik nur an Depositäre lieferten. Als Drogerie-Discounter wollten wir auch solche Produkte verkaufen, aber zu günstigeren Preisen, weswegen die Hersteller uns einfach nicht belieferten. Deswegen beschafften wir uns eine Zeit lang die Ware durch Re-Import, kauften sie im Ausland zu günstigen Preisen und importierten sie nach Deutschland, um sie hier wieder zu verkaufen. Das ist legal, aber man macht sich damit bei den Herstellern nicht sonderlich beliebt. Das ist bis heute so geblieben, aber wir haben den Handel über den grauen Markt bald wieder eingestellt. Es hat keinen Sinn, mit Lieferanten zusammenzuarbeiten, die einen nicht beliefern wollen. Das ist wie in allen Bereichen des Lebens: Wenn der Partner nicht will, dann sollte man irgendwann die Finger

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