Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
sicher waren die 1970er Jahre bei dm in dieser Weise von mir geprägt gewesen. Erst mit dem Wachstum begann ich, Aufgaben und Verantwortung abzugeben, es bildeten sich spezielle Abteilungen mit Fachleuten, die besser Bescheid wussten als ich. Da waren wir im Laufe der 1980er Jahre angelangt. Wir steckten mitten in der Differenzierungsphase mit all ihren Ambivalenzen. Denn einerseits war es natürlich richtig, Fachabteilungen zu schaffen, die eigene Kompetenzen herausbildeten. Andererseits lief man dadurch Gefahr, dass die gerade erst geschaffenen Strukturen in Windeseile erstarren. Man bringt alles in Ordnung, und schon steckt man im Gefängnis der formalen Arbeitsteilung. Die Mitarbeiter sind nur noch für dies zuständig, nicht aber für jenes. Sie tragen Scheuklappen, die ihren Blick auf ihr spezifisches Arbeitsfeld verengen, rechts und links bleibt die Arbeit unbeachtet und unerledigt. Zahlreiche Unternehmen kommen über diese Phase nicht hinaus. Der visionäre Gründer ist überfordert, fühlt sich in den großen Strukturen nicht mehr wohl, kann das Ganze nicht mehr überblicken. Die Mitarbeiter verharren in ihren Positionen, statt Kooperation gibt es Konkurrenz. Am Abteilungsdenken zerbricht die Gemeinschaft. Meist heißt die Lösung: umstrukturieren. Man bricht die »alten« Strukturen auf und schafft neue. Dummerweise bleibt das Prinzip das gleiche: alter Wein in neuen Schläuchen. Weiterhin denkt und handelt jede Abteilung für sich, es findet sich kein neuer Unternehmenszusammenhalt. Das Schiff gerät ins Schlingern.
Auch dm steckte in dieser Dynamik. Das Wachstum war gewollt und geplant. Als ich 1973 startete, machte ich nicht einen Laden auf, sondern den ersten. Anfangs hatte ich alles noch selbst in der Hand, kümmerte mich um jedes Detail. Aber als zu dem ersten der zweite und nach und nach weitere Filialen hinzukamen, fragten wir uns schnell, wie man ein solches Unternehmen führt. Das taten wir nach der Eröffnung des zweiten Ladens genauso wie nach der Eröffnung des zwanzigsten. Als wir etwa dreißig oder vielleicht vierzig Filialen hatten, Ende der 1970er Jahre, war klar, dass wir die Führungsfrage nicht mehr allein beantworten können, sondern deutlich professioneller werden mussten. So kam dann Hellmuth J. ten Siethoff ins Spiel. Auch die Marketingprofis, mit den wir zusammenarbeiteten, haben uns immer wieder wesentliche Fragen gestellt, die uns zur Reflexion zwangen: Wie funktioniert denn euer Geschäft? Warum macht ihr dies, warum das? Wie sollen wir das an die Kundschaft kommunizieren und wie an die Mitarbeiter?
Insofern war die Reflexion unseres Tuns, unserer Organisation und unserer Führungskultur von Anfang an ein wesentlicher Teil unserer Entwicklung. Im Nachhinein erzählt sich so etwas in wenigen Sätzen, aber im realen Leben war diese Entwicklung ein mühsamer, kleinteiliger Prozess. Genauso wie man zwischen der Einschulung und dem Schulabschluss auch viele Jahre Tag für Tag und Unterrichtsstunde für Unterrichtsstunde absolvieren muss.
Zum Beispiel machten wir Anfang der 1980er Jahre, als wir die ersten Führungsseminare durchführten, mit den Mitarbeitern kleine Übungen, mit denen die Spannungen, die sich da zwischenzeitlich zwischen den Kollegen und Vorgesetzten aufgebaut hatten, thematisiert werden sollten. So bekamen die Seminarteilnehmer irgendwann einmal die Aufgabe, das Verhältnis zwischen den Bezirks- und den Filialleitern spielerisch darzustellen. Die Arbeitsgruppe rund um den jungen, selbstbewussten Erich Harsch ließ dafür den Raum abdunkeln, aus den Lautsprechern erschallte der Westernklassiker Spiel mir das Lied vom Tod . Dann betrat der Bezirksleiter Johnny Kontroletti im Ledermantel und mit Knüppel in der Hand die Bühne, während vor ihm auf dem Boden der Filialleiter auf Knien herumrutschte. Das war unmissverständlicher, szenischer Protest gegen die offenbar gar nicht rosigen Verhältnisse.
In der Tat hatten wir immense Probleme. Nicht als Ganzes. Dem Unternehmen dm ging es wirtschaftlich immer gut. Aber die einzelnen Mitarbeiter hatten streckenweise große Probleme. Der Bezirksleiter galt als »Zampano«, der alles allein entschied. Der traf sich mit seinen Mitarbeitern nicht, um mit ihnen Dinge zu besprechen und gemeinsam zu entscheiden, sondern um ihnen mitzuteilen, welche Entscheidungen er getroffen hatte. Jeder Bezirksleiter hatte etwa sieben Filialen zu betreuen. Mit zunehmendem Wachstum brauchten wir immer mehr Bezirksleiter. Selbst regionale
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