Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
Vom Netzwerk:
Sitzungen, in denen sich die Bezirksleiter in kleineren Fragen abstimmen sollten, bestanden bald aus 15 oder mehr Personen. Immer fehlte einer. Immer war irgendeiner krank oder im Urlaub. Immer gab es jemanden, der irgendwelches Wissen aus einer anderen Region in die Runde trug, das alles durcheinander brachte. Also führten wir eine weitere Hierarchiestufe ein, den Gebietsverkaufsleiter.
    Und je größer wir wurden, desto komplexer wurde die Situation. Und dann konnte es vorkommen, dass der Filialleiter heute von seinem Bezirksleiter die Anweisung A bekam, morgen aber die Zentrale die Anweisung B gab und am dritten Tag der Gebietsverkaufsleiter Anweisung C übermittelte. Als wir 350 Filialen hatten, war klar, dass es für die Geschäftsleitung nicht mehr zu schaffen war, jede Filiale mehr als einmal im Jahr zu besuchen. Die Frage, die sich schier aufdrängte, war: Wie bewältigen wir weiteres Wachstum, ohne dass wir eine Hierarchiepyramide bis zum Himmel aufbauen?
    Dazu kamen noch weitere Differenzierungen. So schufen wir für das anspruchsvolle Thema Kosmetik eine zentrale Abteilung Kosmetikberatung, also Mitarbeiterinnen, die durch die Filialen tingelten, um vor Ort mit Rat und Hilfe zur Seite zu stehen. Aber auch die entwickelten sich schnell von Beraterinnen zu Kontrolleurinnen. Es war wie bei Goethes Zauberlehrling: »Die ich rief, die Geister,/Werd’ ich nun nicht los.« Alles wurde immer komplizierter und verzweigter, und jede Lösung schien die Lage noch schwieriger zu machen. Die ständige Expansion zwang uns, die Organisationsfrage sehr bewusst zu stellen.
    Wir hatten uns ja schon die ganzen letzten zehn Jahre mit Führungsfragen beschäftigt. Wir hatten 1982 die Unternehmensphilosophie in Zell am See formuliert. Wir hatten unser Menschenbild hinterfragt und uns über die Gesetzmäßigkeiten eines sozialen Organismus’ Gedanken gemacht. Aber im Kern waren wir immer noch der Meinung, dass ein Unternehmen vor allem etwas hierarchisch Strukturiertes ist: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. So haben wir uns eben auch nur in der Zentrale über Führungsfragen Gedanken gemacht, haben unsere Ideen immer mehr perfektioniert und dann versucht, diese brillanten Erkenntnisse in allen Filialen gleichermaßen umzusetzen. Wir wollten, dass alles gleich läuft, möglichst gleichgeschaltet und zentralistisch gesteuert. Wir haben gewissermaßen in der Führungsarbeit mit Hellmuth J. ten Siethoff gedanklich aufgerüstet, damit es noch besser gelingt, dass eine Filiale wie die andere aussieht. Das war eine unglaubliche Diskrepanz zwischen dem, was wir dachten, und dem, was wir taten. Denn dieser Wunsch nach Kontrolle und Einheitlichkeit setzte ja Befehl und Gehorsam voraus. Eigeninitiative hingegen ist ein Risiko, da ist eben nichts sicher und gleichgeschaltet.
    Die Illusion der Gleichheit
    Wir lebten in der Illusion, dass im Unternehmen alle gleich sein könnten. Wir hatten vergessen, dass wir schon von der physischen Struktur her gar nicht von gleichen Voraussetzungen sprechen konnten, weil wir eben nicht lauter gleiche Filialen hatten: Grundrisse, Länge, Breite, Verkaufsfläche – alles verschieden. Wir hatten keine gleichen Filialen, aber eine Gleichheitsmanie. Genauso unterschiedlich wie die Filialen waren die Mitarbeiter und natürlich auch die Kunden. Auch die Umsätze waren sehr verschieden; genauso wie die Wettbewerbsverhältnisse. Man meint, man verkaufe überall das Gleiche, die gleichen Artikel zu den gleichen Preisen mit der gleichen Werbung und alle haben die gleichen Einkommen und so weiter. Aber wir lebten in einer Illusion. Die Wirklichkeit war ganz anders.
    Einerseits hatten wir die Vorstellung, in allen Filialbetrieben könne alles 1:1 laufen, alles sei total identisch, bloße Reproduktion des Immergleichen. Andererseits hatten wir in unseren Führungsrunden das Ideal herausgearbeitet, das Unternehmen so zu gestalten, dass jeder im Sinne des Ganzen intelligent handeln kann. Es war ein Spagat, den wir da hinlegen mussten, der uns fast zerriss.
    Ab 1987 spürten wir, dass es nicht mehr ganz so rasant weiterging wie in der Vergangenheit, dass das Unternehmen stagnierte. Wir konnten das an der Umsatzentwicklung genauso ablesen wie an der Flächenentwicklung. Wir machten damals mehr Filialen zu, als wir eröffneten.
    Wir verhielten uns wie die Gelehrten bei Galileo Galilei, die sich weigerten, durch sein Teleskop zu schauen, als er ihnen die Monde zeigen wollte, die um ferne Planeten kreisen. Die Monde

Weitere Kostenlose Bücher