Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
davon lassen.
Damals hatten wir auf diese Weise also ein kleines, feines und überaus attraktives Edelsortiment, welches wir durch eine Theke verstellten, damit der Kunde die Ware ausnahmsweise nicht selbst aus dem Regal nehmen konnte. Bei einem Besuch in der Ettlinger Filiale stand ich mit einer Kollegin vor dieser Theke und lehnte mich im Gespräch leicht dagegen. Da merkte ich, dass sie meinem Gewicht nachgab und allmählich in Richtung Regal rutschte. »Das ist ja prima«, sagte ich scherzend zur Filialleiterin, »wenn man sich lange genug anlehnt, kann man irgendwann doch ins Regal greifen.«
Sie fand das gar nicht lustig: »Ja, das ist auch schon häufiger vorgekommen.« Offenbar hatte der eine oder andere Kunde sich da in ungesetzlicher Weise selbstbedient. Verwundert entgegnete ich deswegen: »Aber warum haben Sie die Theke dann nicht festgemacht?«
Da schaut mich die Filialleiterin traurig an: »Was soll ich denn machen? Das habe ich schon vor vier Wochen dem Bezirksleiter gesagt, aber der ist noch nicht dazu gekommen.«
In diesem Moment ist bei mir der Groschen gefallen: Die Filialleiterin erkennt das Problem. Trotzdem wird das Problem nicht gelöst, weil es irgendwo in der Hierarchie hängen bleibt. Dabei wäre es kein Problem gewesen, die Theke wieder zu befestigen – auch für die Filialleiterin selbst ein Kinderspiel. Bei sich zu Hause in der Wohnung hätte sie vermutlich binnen Minuten den Werkzeugkasten aus dem Keller geholt und die Schrauben festgezogen. Aber hier im Laden glaubte sie, diese Art von Arbeit nicht einfach tun zu dürfen, da es Aufgabe des Bezirksleiters ist, dies zu veranlassen. Das musste sich ändern!
Aus eigener Einsicht und in eigener Verantwortung
Mit einem Schlag war mir glasklar: Wir müssen dafür sorgen, dass die Filialleiterin als die Verantwortliche die Filiale führt – egal was zu tun ist. Die Filialleiterin muss selbst die Verantwortung tragen und spüren, dass es auf sie ankommt. Und das heißt: Wir müssen unsere ganze Organisation anders aufziehen.
Dieser kurze Moment an der rutschenden Theke war der Anfang für eine kleine Revolution bei dm, wenngleich wir uns in den letzten Jahren schon stetig in genau diese Richtung bewegt hatten. Das war keine wirkliche Strategie, sondern die logische Folge all dessen, was wir in den Jahren zuvor gedacht und getan hatten. Der Apfel war gereift und fiel jetzt vom Baum. Aber nun veränderte sich das ganze System. Wir bauten die Organisation um und gaben unserer Führungskultur eine neue Richtung. Wir begannen etwas, das wir bald »Dialogische Führung« nannten.
Das Führungsmodell, wie es in der überwiegenden Zahl der Betriebe praktiziert wird, funktionierte nach diesem Eisenhowerschen Prinzip, das sinngemäß meint: Führen heißt, den anderen dazu zu bringen, dass er tut, was ich will, und meint, er hätte es selbst gewollt.
Bei Licht betrachtet ist das pure Manipulation. Demnach ist derjenige erfolgreich, dem es am besten gelingt, andere Menschen zu manipulieren. So kann man natürlich auch leben. Die Frage ist, ob man solches Leben vor anderen und vor sich selbst rechtfertigen will und kann. Ich rede manchmal bei Vorträgen vom Jüngsten Gericht. Da gibt es dann oft Zwischenrufe, das gäbe es gar nicht. Mag sein. Aber ich würde vorsichtigerweise davon ausgehen.
Die neue Führungskultur haben wir gemeinsam mit den beiden Wissenschaftlern Karl-Martin Dietz und Thomas Kracht vom Friedrich-von-Hardenberg-Institut für Kulturwissenschaften in Heidelberg entwickelt. Den Namen »Dialogische Führung« haben die beiden Berater erst im Jahr 2002 dafür gefunden, als sie ein Buch darüber schrieben. Der Entwicklungsprozess startete im Hardenberg-Institut genauso wie bei dm schon etwa zwanzig Jahre vorher.
Ziel war es, eine Führungskultur zu etablieren, in der Mitarbeiter aus eigener Einsicht und in eigener Verantwortung handeln. Ein solches Verhalten setzen Sie nur mit der Warum-Frage in Gang. Der Farbumschlag, dass eine andere Tingierung stattfindet, passiert in dem Moment, wo man die Frage »Warum machen wir das?« stellt. Dann entzündet sich Bewusstsein: »Ich mache das, weil ich weiß, warum ich das mache.« Dann ist der Gedanke nicht mehr außerhalb von mir, dann ist er in mir. Das Denken wird internalisiert, erst in der Organisation und dann in jedem Einzelnen. Wenn sich in einem Menschen Bewusstsein bildet und er erlebt, dass er etwas aus eigener Einsicht macht, dann ist sein Handeln authentisch.
Das griechische
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