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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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den Boden krallten, durchlebte er noch einmal all die Akte von Gewalt und Verworfenheit, die er in seinen sieben Jahren als schout miterlebt hatte: Ertrunkene und Erstochene, die vor seinen Augen im Fluß dahintrieben; geschändete, hilflose, vergewaltigte Frauen; aus dem Fleisch ragende Knochen; Augen, die nie wieder sehen würden. Als er wieder aufblickte, brüllte er: »Habt ihr den Obstgarten abgesucht? Den Fluß? Den Teich? Habt ihr beim patroon gefragt?«
    Durcheinander und verschüchtert senkten die Töchter und seine Frau die Augen. All das hatten sie getan. Ja, vader , ja, echt-genoot , das hatten sie.
    Tja, äh, waren sie schon bei den de Groodts, den Coopers, den van Dincklagens gewesen? Im Wirtshaus? Bei der Anlegestelle der Fähre? Auf der Weide, im Pferdestall, oben bei den van der Donks?
    Es hatte zu nieseln begonnen. Die zehnjährige Ans begann zu wimmern. »Also gut!« schrie er, »also gut. Dann geh ich jetzt zum patroon .«
    Der patroon aß gerade zu Abend, saß tief gebeugt über einem Teller mit eingelegten Rüben, Hartkäse und Hering in saurer Sahne, den er verdrießlich in sich hineinlöffelte, als wollte er auf den meilenweiten Unterschied zu Sprotten aus der Zuidersee hinweisen, als Joost ins Zimmer geführt wurde. Die freie Hand des patroon war gegen die Messerstiche der Gicht mit Bandagen umwickelt, und sein Gesicht hatte die Farbe eines uralten Rotweins. Vrouw Van Wart, eine Frau, die dem Fleisch entsagte, saß stocksteif an seiner Seite, vor sich einen trockenen Brotkanten, während die Witwe seines Bruders und deren Tochter Mariken auf der harten Holzbank daneben hockten. Der jongheer , angetan mit einem Spitzenkragen von der Größe eines Gouda-Laibes, hatte den Ehrenplatz gegenüber seinem Vater inne. »Gütiger Herr im Himmel!« rief der patroon aus. »Was ist denn, Cats, daß Ihr nicht eine Minute warten könnt?«
    »Meine Tochter, mijnheer : sie ist verschwunden.«
    »Wie bitte?«
    »Neeltje. Meine Älteste. Sie ist heute früh zum Arbeiten in den Hof gegangen und seither nicht mehr aufgetaucht.«
    Der patroon legte die Gabel beiseite, nahm aus der Zinnschale vor sich ein Stück Brot und betrachtete es von allen Seiten, als handle es sich um das einzige verräterische Indiz, das am Schauplatz des Verbrechens zurückgeblieben war. Joost wartete geduldig, während der rotgesichtige kleine Mann den Laib auseinanderbrach und ihn dick mit Butter bestrich. »Bei den anderen, äh, Pächtern, habt Ihr schon nachgefragt?« keuchte der patroon mit seiner trockenen, dünnen Stimme.
    Joost war außer sich vor Verzweiflung – es war doch wirklich nicht der Moment für das nette Hin und Her eines gemütlichen Frage-Antwort-Spiels. Sie hatten seine Tochter geraubt, die Herz und Seele und freudiger Mittelpunkt seines Daseins war, und er mußte sie retten. »Das waren die Kitchawanken«, brach es aus ihm heraus, »da bin ich sicher. Die haben sie geraubt –« hier unterbrach er sich schluchzend – »haben sie geraubt, gerade an, an ihrem –«
    Bei der Erwähnung der Indianer sprang der jongheer in die Höhe. »Hab ich’s dir nicht gesagt?« schrie er seinen Vater an. »Diese zerlumpten Bettler. Eingeborene, Verbrecher, Ungeziefer, Drecksgesindel. Die hätten wir schon vor zwanzig Jahren in den Fluß treiben sollen.« Mit zwei großen Schritten durchquerte er das Zimmer und nahm die Arkebuse von der Wand.
    Der patroon stand nun ebenfalls auf seinen gichtigen Füßen, und die Damen hielten sich die gepuderten Hände vors Gesicht. »Aber, äh, was soll denn das, mijn zoon ?« ächzte der patroon leicht beunruhigt. »Was hast du vor?«
    »Was ich vorhabe?« kreischte der jongheer mit hochrotem Gesicht. »Einem Ehrenmann haben sie die Tochter geschändet, vader !« Die Arkebuse war etwa so handlich wie ein Schmiedeamboß und doppelt so schwer. Mit einer Hand schwang er sie über seinem Kopf. »Ich werde sie ausrotten, vernichten, abschießen wie Füchse auf der Jagd, wie Ratten, wie, wie –«
    In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
    Ehrerbietig steckte der tätowierte Sklave den Kopf zwischen Eichentür und weißgetünchter Wand herein. »Is ein roter Mann gekommen, mijnheer «, sagte er in seinem rudimentären Holländisch. »Sagt, hat Botschaft für den schout .«
    Ehe noch patroon oder jongheer den Befehl dazu geben konnten, flog die Tür auf, und unter erregten Ausrufen der Damen wankte der alte Jan ins Zimmer. Er trug eine zerrissene Soutane, löchrig an Ellenbogen und Schultern, und

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