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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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brüllte Flüche, bis der Wind seine Stimme verschluckte, dann stolperte er die Böschung aus gefrorenem Abfall und Hundedreck hinauf, die sich vor dem Haus seines Vaters wie eine Zuchthausmauer erhob. Fünfundvierzig Meter. Weiter war es nicht vom Café zur Schwelle seines Vaters, doch es waren die schwersten fünfundvierzig Meter seines Lebens. Der hat nie einen Sohn gehabt. Viertausend Meilen Flugreise, um diese knappe Verlautbarung aus dem Mund einer Fremden zu hören, einer Hexe in ausgeleiertem Pullover und mit zwei Tonnen Make-up im Gesicht. Das tat verdammt weh. Selbst wenn man hart, seelenlos und frei war.
    Auf der vereisten Treppe zögerte Walter. Er kam sich vor wie ein armer, mißhandelter Waisenknabe aus einem Dickens-Märchen – was sollte er zu ihm sagen? Wie sollte er ihn überhaupt anreden – mit Dad? Vater? Alter? Er war erschöpft, mutlos, durchgefroren bis ins Mark. Der Wind heulte. In seinem Augenwinkel klebte Schneematsch. Und dann war ihm plötzlich alles egal – der Mistkerl hatte ja sowieso keinen Sohn, oder? –, und Walter donnerte gegen die verwitterte Tür, was das Zeug hielt. »Hallo!« brüllte er. »Aufmachen! Ist da jemand?« Bumm, bumm, bumm. »Aufmachen, verdammt noch mal!«
    Nichts. Kein Geräusch. Keine Antwort. Ebensogut hätte er an den Deckel des eigenen Grabes klopfen können. Sein Vater wollte nichts von ihm wissen, er war nicht zu Hause, existierte gar nicht.
    Da faßte Walter den Entschluß, direkt vor dieser Tür zu sterben, sich tiefgefrieren zu lassen wie einer der grotesken Kadaver auf dem Dach des Nachbarhauses. Damit würde er es ihm zeigen, dachte er verbittert. Sein Sohn, sein einziger Sohn, der Sohn, den er verleugnet und verlassen hatte, erfroren vor seiner Tür wie ein Klumpen Fleisch. Und dann, mit einem Schlag, bäumten sich in ihm Wut, Verzweiflung und Selbstmitleid so hoch auf, daß er sich nicht mehr beherrschen konnte, und er warf den Kopf zurück und jaulte wie ein in die Falle gegangenes Tier. Sein ganzes traumatisches Leben, all die Geister und Visionen, das schmerzende Fleisch und die niemals heilenden Wunden – all das konzentrierte sich in dem nackten, markerschütternden Klageschrei, der aus seinem Bauch aufstieg und die Wolfshunde verängstigte, den Wind zum Verstummen brachte: »Dad!« schluchzte er. »Dad!« Der Sturm raubte ihm den Atem, die Kälte durchdrang ihn. »Daddy, Daddy, Daddy!«
    Daraufhin ging die Tür auf, und da stand er, Truman Van Brunt, blinzelte in die Dunkelheit, auf das Eis, auf Walter. »Was?« fragte er. »Wie hast du mich eben genannt?«
    »Dad«, sagte Walter und wollte ihm die Arme um den Hals schlingen. Er wollte es. Wirklich. So sehr, wie er je etwas gewollt hatte. Aber er konnte sich nicht rühren.
    Vierzig Grad minus. Und dazu Wind. Truman stand in der offenen Tür, immer noch groß und kräftig, die tiefroten Büschel seines Haares waren von schmutzigem Grau durchschossen und wirbelten ihm um den Kopf, in seinem Gesicht lag tiefste Bestürzung, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht, nur um sich im nächsten wiederzufinden. »Walter?« fragte er.
    Das Innere der Hütte war ordentlich aufgeräumt und beinahe mönchisch karg. Zwei Räume. Ein Holzofen in der Ecke des vorderen Zimmers, drei Wände voll mit Bücherregalen, eine Kochnische an der vierten, ein kurzer Blick ins Hinterzimmer: ein ordentlich gemachtes Bett und ein Nachttisch, noch mehr Bücher. Die Bücher hatten Titel wie Agrarkonflikte auf den Gütern Van Wart und Livingston; Chronologie der Grafschaft North Riding; Unter Segeln auf Hudsons Fluß; Die Naturheilkunst der Delaware; Geschichte der Indianerstämme am Hudson River . Dicht neben dem Ofen, fast als ob es Brennmaterial wäre, stand ein mit Papier vollgestapelter Schreibtisch, auf dem der schwarze Höcker einer uralten Schreibmaschine aufragte. Unter dem Tisch stand eine Kiste mit Fleischmann’s Gin. Eine Wasserleitung gab es nicht.
    Ehe er noch den Parka ausziehen konnte, hatte sein Vater zwei Becher mit heißer Limonade und Gin eingegossen, und Walter saß in einem geflickten Lehnsessel, hielt das heiße Getränk in den gefühllosen Händen und las stumm die Buchtitel. Truman setzte sich ihm gegenüber rittlings auf einen Holzstuhl. Im Ofen knackte es. Von draußen drang der Lärm des arktischen Sturms herein, beständig wie eine atmosphärische Störung. Walter wußte nicht, was er sagen sollte. Er war endlich am Ziel, saß seinem Vater gegenüber und wußte nicht, was er sagen

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