Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
mechanisches Surren, gefolgt vom Klappern einer herabfallenden Platte, und dann legte Bing Crosby mit »White Christmas« los, sang seine Schnulze vor den verbissenen, schweigsamen, betrunkenen Männern in ihren Fellmänteln, vor dem Bratfett und dem verloren wirkenden Tortenstück, vor den Baracken, der glatten Eisschicht, den steifgefrorenen Hundehaufen auf der Straße, sang vor Walter von den weißen Weihnachten, die er früher erlebt hatte ...
    Sollte das ein Witz sein? Ein Gag? Walter wagte nicht, sich umzusehen.
    »Noch ’ne Tasse?« fragte die Kellnerin, die dampfende Glaskanne zum Eingießen bereit.
    »Äh, nein, nein danke«, stammelte Walter und legte zur Bekräftigung die Hand über die Tasse, »aber, äh, vielleicht könnten Sie mir helfen –?«
    Die Kellnerin lächelte ihn breit, lippenstiftglänzend an. »Ja? Sie suchen wohl jemanden?«
    »Vielleicht kennen Sie ihn ja gar nicht. Ich meine, vielleicht wohnt er nicht mehr hier. Truman Van Brunt?«
    Bis auf Bing Crosby verstummte alles. Das Lächeln der Kellnerin verschwand. »Was wollen Sie von dem?«
    »Ich...« er konnte es nicht sagen, brachte das Wort nicht heraus, »ich bin sein Sohn.«
    »Sein Sohn? Der hat nie einen Sohn gehabt. Reden Sie keinen Quatsch.«
    Darauf war er nun wirklich nicht gefaßt gewesen. Es traf ihn wie ein Stoß von hinten, wie ein unnachgiebiges Hindernis am Straßenrand. Er war niedergeschmettert. Am liebsten hätte er ein Loch in das dreckige Linoleum zu seinen Füßen gegraben und sich darin verkrochen, bis die Welt wieder näher an die Sonne rutschte und draußen vor den Fenstern Palmen sprießten. Der hat nie einen Sohn gehabt . Dafür war er viertausend Meilen weit geflogen.
    Der Mund der Kellnerin war ein schmaler, mißtrauischer Spalt. Die Eskimos waren verstummt, beobachteten ihn, das Desinteresse in ihren Blicken war plötzlich einer grausamen Heiterkeit gewichen, als wäre Walter – groß und weiß und mit seinen fettigen roten Haaren, dem irren Blick und den kaputten Füßen – mit einer Zirkustruppe in die Stadt gekommen. Und Bing Crosby sang einfach weiter, trällerte von fröhlichen und hellen Tagen ...
    »Hey, Alter.« Der junge Eskimo, der ihn vorher gemustert hatte, stand jetzt neben ihm. Walter blickte zu dem breiten, glatten Gesicht und den unsicheren Augen eines etwa vierzehnjährigen Jungen auf. »Mr. Van Brunt, der wohnt da oben.« Er deutete mit dem Daumen. »Drittes Haus links, wo das alte Autowrack davorsteht.«
    Benommen kam Walter auf die Beine, zerrte einen zerknüllten Dollarschein aus der Tasche und ließ ihn neben der Tasse auf den Tresen fallen. Ihm war heiß, glühendheiß in dem schweren Parka, außerdem leicht schwindlig. Er holte seinen Koffer aus der Ecke, dann drehte er sich zu dem Jungen um und nickte ihm kurz zu. »Danke«, sagte er.
    »Hey, kein Problem, Alter«, erwiderte der Junge und zeigte beim Grinsen die geschwärzten Stummel seines Gebisses, »der ist mein Lehrer.«
    Es war vier Uhr nachmittags und so finster wie um Mitternacht. In zwei Wochen würde die Sonne überhaupt zum letztenmal am Himmel über Barrow stehen – bis zum 23. Januar des nächsten Jahres. So hatte Walter es im Führer durch Alaska: Die letzte Grenze Amerikas gelesen, während ihn im grünen Garten seines Hauses in Van Wartville die Moskitos plagten. Jetzt war er da, stand auf den Stufen des »Northern Lights Café«, von wo er ein paar Häuser weiter im Zwielicht den mit Ziegelsteinen aufgebockten 49er Buick sah; das Wrack stand vor einem unscheinbaren, niedrigen Schuppen, der sich kein bißchen von den anderen unterschied, außer daß die Karibukadaver auf dem Dach fehlten. Das Haus seines Vaters. Hier, am hintersten, fernsten, abgefrorensten Ende der Welt.
    Walter wollte die Straße überqueren, der Wind blies ihm in den Rücken, der Koffer zerrte an seinem Arm. »Paß doch auf, du Arschloch!« schrie ein Kamikaze, der mit heulendem Motor und Eis aufwirbelnden Reifen auf einem Schneemobil vorbeiraste, und als Walter aus dem Weg torkelte, stand er mitten in einem Rudel zähnefletschender Hunde, die sich zwischen seinen Beinen um einen Klumpen gefrorener Gedärme balgten. Barrow. Der Schweiß fror ihm an der Haut fest, seine Finger waren abgestorben, und vierzehn blutrünstige Wolfshunde rissen sich zu seinen Füßen in Fetzen. Er war erst etwa eine halbe Stunde in der Stadt, und er hatte bereits genug. In aufbrodelnder Wut trat er kraftvoll nach den Hunden, schwang seinen Koffer wie eine Keule und

Weitere Kostenlose Bücher