World's End
Backenknochen eines Mittelschwergewichts rann. Kaum zwei Uhr mittags, und für Walter drehte sich schon alles. In den Sessel geflegelt, alle Glieder wie aus Plastik und schwerelos, so leicht, als wären sie vom Körper getrennt, hielt Walter sein Glas hochprozentigen Alkohol mit beiden Händen fest und hörte zu, wie sein Vater die Vergangenheit aufrollte wie bei den Indianern der sachem seine Perlenschnüre.
»Depeyster«, leitete der Alte dröhnend ein, »bei Depeyster Van Wart bin ich stehengeblieben, oder?«
Walter nickte. Um davon zu hören, war er hergekommen.
Truman senkte den Kopf, steckte einen seiner fleischigen Finger in seinen Drink – Gin mit Gin – und leckte ihn ab. »Vielleicht hab ich das gestern abend falsch erzählt«, sagte er. »Das von dem Tag, als ich ihn in dem Laden wiedertraf. Für mich war das reiner Zufall, das schwör ich dir, aber für ihn nicht. Nein. Der überläßt niemals irgendwas dem Zufall.«
Walter kämpfte seine Angst, seine Wut nieder, kämpfte gegen den Drang, ihm zu widersprechen, sank noch tiefer in den Sessel und nippte an dem Gin, der wie ein Reinigungsmittel schmeckte, während sein Vater weitersprach.
Das war schon komisch, erzählte er, wie Depeyster auf einmal wieder in sein Leben trat. Nach dem Zusammentreffen bei Cat’s Corners waren sie sich immer öfter begegnet, während Truman sich an den Alltag in der Colony gewöhnte, zu Vorträgen und Konzerten ging, und sogar als er in den Kulturverein und dann in die Partei eintrat. Depeyster war einfach überall. Zufällig ließ er sich gerade in Skips Werkstatt einen neuen Auspuff montieren, als Truman den Wagen hinbrachte, um Stoßdämpfer und Bremsbeläge austauschen zu lassen, er hockte an der Theke der »Yorktown Tavern«, wenn Truman mit einem Arbeitskollegen nach Feierabend noch einen trinken ging, er stand im Laden von Genung und kaufte Stoff, er kaufte bei Offenbacher eine Tüte Kaiserhörnchen. Er war überall. Aber besonders oft saß er im Zug.
Zweimal wöchentlich, wenn um halb fünf die Fabriksirene den Feierabend verkündete, packte Truman sein Essenspaket, zog einen alten Armeerucksack unter der eisernen Werkbank hervor und ging zu Fuß die sechs Blocks bis zum Bahnhof. Er hatte am New York City College einen Kurs über die Geschichte der USA belegt, außerdem Seminare über Soziologie, Transzendentalphilosophie, über die amerikanische Arbeiterbewegung, die Ursachen und Auswirkungen des Unabhängigkeitskrieges, und während der mehr als einstündigen Eisenbahnfahrt aß er immer ein Sandwich, trank Kaffee aus der Thermoskanne und las in seinen Büchern. Eines Abends blickte er aus seinen Büchern auf, und da saß Depeyster, braungebrannt und lässig, im Straßenanzug und mit einer Aktentasche unterm Arm. Er habe geschäftlich in der Stadt zu tun, sagte er, und Truman kam es nie in den Sinn zu fragen, was für Geschäfte wohl um sechs Uhr abends noch abgewickelt wurden.
Danach traf ihn Truman oft im Zug, manchmal allein, manchmal auch in Gesellschaft von LeClerc Outhouse. Die drei ergänzten sich hervorragend. Van Wart kam aus einer alteingesessenen Familie und war eine echte Fundgrube für regionale Geschichte, ganz zu schweigen von dem Magistertitel, mit dem er 1940 in Yale abgeschlossen hatte. LeClerc sammelte Erinnerungsstücke an den Revolutionskrieg, von denen er die meisten selbst ausgegraben hatte, und er wußte mehr über den Kampf um New York als Trumans Professoren. Sie redeten über Geschichte, über Zeitgeschichte, über Politik. LeClerc und Depeyster waren natürlich beide eiserne Republikaner und vehemente Befürworter von Dewey als nächstem Präsidenten, und überall witterten sie Kommunisten. In China, in Korea, in der Türkei, sogar im Weißen Haus. Vor allem natürlich in der Kitchawank Colony. Truman sah sich ständig in der Position des Verteidigers; er verteidigte die Linken, den New Deal und Roosevelts Politik, die Colony, seine Frau, seinen Schwiegervater, Hesh und Lola. Dabei hielt er sich nicht allzugut.
Und warum nicht? Vielleicht weil er sich seiner Sache selbst nicht sicher genug war.
»Was hast du eigentlich damit gemeint«, unterbrach ihn Walter, »daß Dipe nie etwas dem Zufall überläßt? Willst du damit sagen, daß er dir gefolgt ist? Absichtlich?«
Der Alte lehnte sich auf seinem spartanischen Stuhl zurück, auf diesem harten, unerträglichen Holzgerippe, und musterte ihn mit verächtlichem Blick. »Sei doch nicht so blöd, Walter – natürlich war es Absicht.
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