Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
verhakt, rührte sich nicht. Sein Vater, nach Alkohol stinkend, eine Zigarette zwischen den Lippen und wegen des Rauchs die Augen zusammengekniffen, stellte sein Bier ab und kam ihm zu Hilfe. Ganz sachte, knurrte er. Daß bloß die Schnur nicht reißt. Dann kam sie frei, ließ sich heraufziehen, so schwer, als wäre die Krebsfalle mit Ziegelsteinen gefüllt.
    Da waren keine Ziegelsteine. Da war keine Falle. Nur Walters Mutter, mit den seelenvollen Augen, das Haar wie eine Wolke, und mit Krebsen übersät, von der Hüfte abwärts nichts mehr da. Nichts als die Knochen.
    Das nächste, was er wahrnahm, war die Krankenschwester. Eine große Frau mittleren Alters, deren Uniform ihre Hüften und Schenkel noch praller wirken ließ; sie nahm das Zimmer im Sturm, machte das Deckenlicht an, riß die Jalousien hoch, schwenkte Bettpfanne und Spritze, hantierte mit dem Rektalthermometer wie mit einem Dolch. Sonnenlicht gellte durchs Fenster herein, sie pfiff irgendeinen Kriegsmarsch – war es Sousa oder die »Hymne des Marinekorps«? –, und er spürte eine leichte Variation der Schmerzkurve, als ihm der Venenkatheter aus dem Arm gezerrt und ungeschickt wieder eingesetzt wurde.
    Der Traum – schrecklich genug – entließ ihn langsam aus seinen Fängen, und Walter erwachte zu einer unerträglichen Realität. Alles übermannte ihn auf einmal, die Stimme der einsetzenden Vernunft zischte ihm ins Ohr wie ein Kriegsberichterstatter: Du bist im Krankenhaus, deine Rippen brennen wie Feuer, dein Arm ist nur noch Schorf. Und was sagst du dazu: ein Fuß ist weg. Weg. Einfach verschwunden. Du bist behindert. Ein Krüppel. Ein Krüppel fürs Leben.
    Dann gab es Frühstück. Verdünntes Orangensaftkonzentrat, Eipulver, Schinkenersatz. Serviert von einer Schwester, die so unkommunikativ war, als hätte sie ein Schweigegelübde abgelegt, und von einer üppigen sechzehnjährigen Pflegepraktikantin, die einen Vogel auf dem Fensterbrett entdeckte und ihm die ganze Zeit, die sie im Zimmer war, zugurrte: »Ooooch, du süßer tleiner Piepmatz, ooooch, du tleiner Pieper du.« Walter hatte keinen Hunger.
    Als sie weg waren, setzte er sich auf und untersuchte vorsichtig sein Bein. Er spürte ein dumpfes Pochen im Kniegelenk, einen schneidenden Schmerz dort, wo sie die Wade mit zwanzig Stichen genäht hatten. Seine Finger wanderten tiefer, tasteten sich über das Schienbein, widerstrebend, sich gegen die Entdeckung sträubend. Er fühlte Verbände – Gaze und Pflaster –, und dann berührte er es, so wie er ein heißes Bügeleisen berührt hätte: den flach abgehauenen Stumpf seines Beins. Er warf die Decke zurück. Da war es. Sein Bein. Oder nein, das war das Bein von jemand anderem, verstümmelt und entstellt, obszön, fremdartig, leblos wie ein Holzklotz. Er mußte an Brot denken, an französisches Baguette, mittendurch gebrochen. Er dachte an Leberwurst.
    Dann schlief er wieder ein. Verlor das Bewußtsein. Hinabgezogen in die Tiefe von Morphium und Dolantin, tauschte er einen Alptraum gegen den nächsten ein. Im Schlaf durchlebte er den Unfall noch einmal. Da war der Schatten, das Schild, das Gefühl von Hilflosigkeit und Vorherbestimmung. Und dann war er ein alter Mann, gebeugt, weißhaarig, besabbert mit der eigenen Spucke, der an einer Straßenecke in der Bowery Bleistifte verkaufte oder auf einem Lager in irgendeinem Wohlfahrtsheim ausgestreckt lag, zusammen mit hundert anderen Krüppeln und Schwachsinnigen. Im Schlaf sah er die Leiche seines Großvaters und die Woge der Plötzen, die sich über ihm schloß. Im Schlaf sah er seinen Vater.
    Der Alte saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Sein Haar war geschnitten, gescheitelt und frisch gekämmt; er trug einen Mohair-Anzug und eine Seidenkrawatte, und sein Blick war gelassen. Aber jetzt kam das Sonderbare: er trug weder Schuhe noch Socken. Und als Walter den Kopf wandte, um ihn anzusehen, hob Truman langsam erst das eine Bein, dann das andere, und stützte beide auf der Bettkante auf, als wollte er sie zur Schau stellen. Dann wackelte er mit den nackten Zehen und hielt Walters verblüfftem Blick stand.
    »Aber, aber ich dachte –« stammelte Walter.
    »Was dachtest du?« fragte der Alte. »Daß ich auch ein Krüppel wäre?« Er krümmte die Zehen, dann stellte er beide Füße wieder auf den Boden. »Aber das bin ich, Walter, das bin ich«, sagte er, schloß die Augen und rieb sich den Nasenrücken, »– du kannst es bloß nicht sehen, das ist alles.«
    »Auf dem Wasser, auf dem Schiff –«

Weitere Kostenlose Bücher