World's End
begann Walter.
Truman winkte mit den Hand ab, als wedelte er Rauch weg. »Eine Illusion«, sagte er. »Eine Warnung.« Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. »Paß auf, wo du hintrittst, Walter.«
In diesem Moment ging Walter ein Licht auf, jetzt begriff er, was er auf dem Geisterschiff hatte fragen wollen. Sein Leben lang hatte er die Geschichte so hingenommen, wie Hesh und Lola sie ihm erzählt hatten, als wäre sie im Fels von Anthony’s Nose in Granit gemeißelt – sein Vater war ein Verräter, ein gewissenloser Teufel, der sie im Stich gelassen und verkauft hatte, und deswegen war seine Mutter gestorben. Aber niemand, nicht einmal Hesh, kannte die ganze Wahrheit. »Die Unruhen damals, neunundvierzig«, sagte Walter. »Erzähl mir, was ist da passiert? Was hast du ihr angetan?«
Truman antwortete nicht.
»Es hat sie umgebracht, oder?«
Die Miene seines Vaters hatte sich verhärtet, jetzt lag wieder der Blick des wahnsinnigen Propheten darin. Nach einer Weile sagte er: »Ja, ich schätze, so war es.«
»Hesh sagt, du bist nichts als ein Mörder –«
»Hesh.« Truman spie den Namen aus, als hätte er in faules Obst gebissen. »Willst du es wirklich wissen?« Er machte eine Pause. »Dann geh und lies das Schild noch mal.«
»Schild? Was für ein Schild?«
Der Alte stand jetzt, eine seltsame Mischung aus dem, was er vor elf Jahren gewesen war, und der erfolgreichen Persönlichkeit, die ihren Weg gemacht hatte. Er wirkte nahezu adrett. »Das sag du mir«, sagte er mit einem Blick auf Walters Bein, dann drehte er sich um und ging zur Tür hinaus.
Es war wie auf dem Geisterschiff. »Komm zurück!« rief Walter. »Komm zurück, du Mistkerl!«
»Ich bin ja hier, Walter.«
Er öffnete die Augen. Zuerst wußte er nicht, wo er war, konnte den blaßweißen Fleck über sich nicht richtig erkennen, aber dann holte ihn ihr Duft – Cremespülung, My Sin, Fruchtkaugummi – zurück in die Wirklichkeit. »Jessica«, murmelte er.
»Du hast nur schlecht geträumt.« Ihre Hand lag auf seiner Stirn, ihr Busen auf seinem Gesicht. Er griff nach oben, immer noch benommen, und als wäre es unter diesen Umständen die natürlichste Sache der Welt, fing er an, an den Knöpfen ihrer Bluse zu nesteln. Sie schien nichts dagegen zu haben. Er nestelte weiter, sein Hirn war leer, seine Finger wie Salzstangen, und dann hatte er ihre Brüste in den Händen, hielt sie und knetete sie, zog sie an die Lippen, als wäre er ein Säugling in der Wiege. Aber nein, Moment mal: er war tatsächlich ein Säugling, seine Mutter beugte sich mit ihren unergründlichen Augen über ihn, die Welt war so rein und unkompliziert wie die Tupfen der Vormittagssonne an den Wänden des Kinderzimmers ...
Jessica drückte ihm Küsse auf die Stirn, flüsterte seinen Namen. In diesem Augenblick verstummte das große geschäftige Krankenhaus – die Fernseher schwiegen, die Lautsprecher wurden still, die Korridore lagen wie unter einem Bann. Ärzte, Schwestern, Pfleger, neugeborene Säuglinge und wacklige Blutspender hielten den Atem an. Keine Injektionsspritze glitt in Arm oder Gesäß, kein vom Hund gebissenes Kind brüllte auf. In den Gängen waren keine Schritte zu hören, keine Vögel in den Bäumen, keine widerspenstigen Anlasser auf dem Parkplatz. Nur Stille. Und mitten im Zentrum, im Angelpunkt dieser Stille, die wie ein tiefer Ozean war, lagen Walter, mit verkürztem Bein, und Jessica. In seiner Angst, seiner Einsamkeit, seiner Hingabe an Kummer und Verzweiflung krallte er sich dankbar an sie, hielt sich an ihr fest wie ein Ertrinkender, der inmitten einer Stromschnelle einen Felsblock umklammert. War er neulich nacht verrückt gewesen? Hart, seelenlos und frei zu sein war ja gut und schön, sich vom Trost und von der Gemeinschaft der Mitmenschen loßzureißen war etwas anderes. Er war ein Krüppel, ein Paria. Und nun war sie gekommen, Johanna von Orleans, die Nymphe Kalypso und Florence Nightingale, alle in einer. Was wollte er mehr?
»Jessica«, flüsterte er, während sie sich über ihm wiegte, der sanft wogende Vorhang ihres blonden Haars ihn abschirmte von den bedrückenden Wänden, den unausstehlichen Blumen, dem Nachttisch mit den zerfledderten Exemplaren von Elle und Reader’s Digest , von Krankheit und Schmerzen. »Jessica, ich finde ... ich meine ... glaubst du, wir sollten heiraten?«
Die Stille dauerte an. Eine feenhafte Stille, traumhaft und verzaubert, die den Augenblick läuterte und in der Schwebe hielt,
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