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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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erwacht, hatte sich aufgesetzt und zögernd seine geschwollene Wange untersucht oder den Stumpf seines Beins gerieben, und im Laufe dieser vielen tatenlosen Stunden war der Schreck über das Zusammentreffen mit dem schout völlig aus ihm gewichen. In der Finsternis, in der Feuchtigkeit, in der undurchdringlichen Einsamkeit dieses sonderbaren Gefängnisses spürte er wieder die alte Wut in seinem Innern aufkeimen. In ihren Augen war er also ein Verbrecher. Aber was hatte er eigentlich getan? Ein Stück Land beansprucht? Sich bemüht, es zu bearbeiten und zu überleben? Nach welchem Recht gehörte denn dem schout sein netter kleiner Hof – oder dem patroon seine Ländereien? Je mehr er darüber nachdachte, desto zorniger wurde er. Wenn jemand ein Verbrecher war, wenn jemand eingesperrt gehörte, dann war es Joost Cats, dann waren es Oloffe Van Wart und sein fettärschiger commis mit den ledergebundenen Hauptbüchern. Sie waren die wahren Verbrecher – der patroon und seine Schergen, die Hochmögenden Herren der Generalstaaten, ja der englische König selbst. Es waren Blutegel, Parasiten, Kröten; sie krochen einem unter die Haut und ließen nicht ab, bis sie ihr Opfer ausgesaugt hatten.
    Als die Tür diesmal aufging, war er bereit. Er war vom Boden aufgesprungen, die Harke in der Hand, hatte sie schon hoch über den Kopf erhoben wie einen Tomahawk und die Kerze weggestoßen, als sie seinen Namen aussprach und er sich erneut wie ein Dummkopf vorkam. »Psst!« zischte sie. »Ich bin’s. Ich habe Ismailia bestochen und dir was mitgebracht.« Neeltje reichte ihm eine hölzerne Schüssel und zog die Tür hinter sich zu. Die Schüssel war warm und roch nach Kohl. Jeremias sah wortlos zu, wie sie das Binsenlicht wieder aufrichtete; es beleuchtete ihr Gesicht, das ihm vorkam wie etwas neu aus der Leere Geschaffenes. »Ich hasse meinen Vater«, sagte sie.
    Jeremias umklammerte die Schüssel, als wäre es ein Felsen am Rande eines Abgrunds. Er konnte mit ihr fühlen, doch er bewahrte sein Schweigen.
    »Er ist so, so ...« Sie brach ab. »Geht es dir gut?«
    Er musterte eine Locke ihres dünnen hellen Haars, die sich unter der Haube hervorgearbeitet hatte und auf schon vertraute Weise an einer Augenbraue hing. Er wollte etwas Wichtiges, Leidenschaftliches sagen, etwa Ja, jetzt, wo du hier bist , aber ihm fehlten die Worte. Als er endlich antwortete, klang die eigene Stimme fremd in seinen Ohren. »Ich werd’s überleben.«
    Sie bedeutete ihm, sich zu setzen, und kauerte neben ihm nieder, während er sich ins Stroh fallen ließ und behutsam aus der Schüssel nippte. »Ich habe sie reden hören«, sagte sie. »Meinen Vater und den patroon. Sie wollen dich noch eine Nacht lang hier drin lassen, um dir eine Lektion zu erteilen. Danach wird der patroon anbieten, dir deinen Hof in Pacht zu geben.«
    Jeremias hörte ihr kaum zu. Er gab einen Dreck auf den patroon, auf den Hof, auf alles – auf alles außer auf sie. Ihre Art zu sprechen, wie sie jedes Wort hervorstieß wie ein kleines Mädchen, wie ihre Lippen sich wölbten und ihre Hüften sich gegen die Nähte ihres Kleides drängten, als sie neben ihm hockte: jede ihrer Bewegungen, jede ihrer Gesten war eine Offenbarung. »Ja«, sagte er, um irgend etwas zu sagen. »Ja.«
    »Freust du dich denn nicht?«
    Ob er sich freute? Darüber, daß man ihm das Gesicht zerschlagen und die Hände gefesselt hatte, daß er in Schimpf und Schande davongezerrt und in dieses Loch geworfen worden war, während seine Schwester und der Kleine schutzlos allein blieben? Ob er sich freute? »Ja«, sagte er nach einer Weile.
    »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie und blickte zur Tür.
    Auf einmal hörten sie die Nacht: das Sirren der Insekten, die klagenden Rufe und das leise Wispern dahinhuschender Vögel. Jeremias stellte die Schüssel ab und rutschte auf sie zu. Gerade als er nach ihr griff, gerade als er ihre Hand nehmen wollte, um sie an sich zu ziehen, schüttelte sie ihn ab und stand auf. Sie kniff plötzlich die Augen zusammen und kreuzte ein Bein vor das andere. »Wer war diese Frau?« fragte sie und beobachtete ihn genau. »Die auf deiner Farm.«
    Frau? Farm? Wovon redete sie überhaupt?
    »Das ist doch deine Frau, oder?«
    Am nächsten Morgen wurde Jeremias dem patroon vorgeführt. Beim ersten Tageslicht weckte ihn die Schwarze mit den sonderbaren verschlungenen Narben um Lippen und Nasenlöcher. Sie gab ihm einen Eimer Wasser und eine Schale mit lauwarmem Maisbrei, dann bedeutete sie ihm in so

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