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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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herunterhängender Rinde und über und über bedeckt mit ohrförmigen Pilzwucherungen –, bis sie von den Schatten des Unterholzes verschlungen würden.
    Der Pastor hatte sich gerade vorgebeugt, um mit gewölbten Händen aus einem klaren, steinigen Bassin zu trinken, als er aufsah und zwischen Eichengestrüpp und Berglorbeer die Gestalt eines Mannes ausmachte. Es war ein Schock, und trotz all seiner Gewißheit, trotz all seiner Verachtung für die Gespenster, die in einfältigen Seelen spuken mochten, fühlte er seinen Herzschlag aussetzen. Doch der Schreck währte nur einen Augenblick; das hier war kein rotbärtiger Schwede mit einer triefenden Axt, es war ... nichts. Die Gestalt, wenn sie überhaupt dagewesen war, war im Unterholz verschwunden wie ein Phantom. Hatten seine Augen ihm einen Streich gespielt? Nein. Er hatte ihn klar und deutlich gesehen. Einen Mann aus Fleisch und Blut, groß und hager, mit den Zügen eines Eingeborenen und in einen Fellmantel gehüllt. Benommen stand der Pastor vorsichtig auf. »Hallo?« rief er. »Ist da jemand?«
    Kein Blatt regte sich. Auf ihrem unsichtbaren Sitz hoch über ihm schrie eine Krähe in rauhen, höhnischen Tönen. Plötzlich ärgerte sich der Pastor über sich selbst – er war, wenn auch nur für einen Moment, dem Aberglauben zum Opfer gefallen. Doch der Ärger wich bald der Angst: rationaler, kühler, selbsterhaltender Angst. Wenn das, was er gesehen hatte, keine Erscheinung gewesen war, kam ihm in den Sinn, dann könnte womöglich ein Wilder in Kriegsbemalung auch jetzt noch im Gebüsch lauern und sich an ihn – den Pastor – heranpirschen, wie an einen Truthahn oder eine Wachtel. Erinnerungen an die während der vierziger Jahre von Indianern veranstalteten Massaker folgten dieser Einsicht, und der Pastor, vor dessen geistigem Auge verrenkte Gliedmaßen und vom Tomahawk abgetrennte Skalps aufstiegen, riß sich zusammen und setzte eilig seinen Weg fort.
    Er war ziemlich außer Atem, als er die Hügelkuppe erreichte, und er blieb eine Weile stehen, um Luft zu holen und die verkommene kleine Farm zu mustern, die vor ihm lag. Das Grundstück sah noch schlimmer aus als erwartet. Vor kurzem hatte ein Gewitter den Hof vor dem Haus (wenn man es denn Haus nennen durfte) in einen Sumpf verwandelt, die Steinmäuerchen waren verfallen, und es lag ein beißender Gestank nach menschlichen Exkrementen in der Luft. Die Frau mit dem kahlgeschorenen Kopf und dem blöden Starren kam heraus, um ihn zu begrüßen. Sie trug ein Kleid, das sie von einer Leiche gefleddert haben mochte, und das Bastardkind – der Junge schien etwa zwei zu sein – wieselte ihr hinterher, nackt wie am Tage seiner Geburt. Der Pastor begrüßte sie, setzte sich auf den Hackklotz vor dem Haus, wo er schon wieder Wasser serviert bekam – wurde einem denn nirgendwo mehr Bier angeboten? – und auf einem säuerlichen Maiskuchen herumkaute, während das Kind losrannte, seinen Onkel zu holen, und eine Wildgans mit gestutzten Flügeln ihn hoffnungsfroh anblinzelte.
    Der junge Van Brunt kam vom Feld und streckte eine schwielige Hand aus. »Schön, Euch wiederzusehen, Pastor«, sagte er. »Wir danken Euch sehr, daß Ihr gekommen seid.«
    Eigentlich hatte der Pastor streng sein, dem Jungen seine Meinung sagen wollen, was ihm denn einfiele, einen Halbblut-Bastard aufzuziehen, die Macht des patroon in Frage zu stellen und sich mit dem schout anzulegen, doch Jeremias’ freundlicher Gruß besänftigte ihn. Er ergriff die ausgestreckte Hand und blickte an der knallroten Narbe vorbei, die der Degen des schout auf dem Gesicht des Jungen wie das Bleilot eines Landvermessers hinterlassen hatte, in die unruhige Tiefe seiner Augen. »Es ist mehr als meine Pflicht vor Gott«, sagte er leise. »Es ist mir auch ein Vergnügen.«
    Die Zeremonie war keine große Affäre – ein paar Worte gesprochen und etwas Wasser verspritzt, das die Frau aus dem Bach geholt hatte –, eine Zeremonie, wie er sie schon hundertmal und öfter vollzogen hatte; Probleme bereitete ihm lediglich der Name. Er verhaspelte sich zweimal, ehe ihn Jeremias mit sanfter, sicherer Stimme korrigierte. Jeremy – das Wort der Engländer für Jeremias – bot keine Schwierigkeiten; es war der Nachname, der seine Zunge am Gaumen kleben ließ wie eine halbgare Honigwaffel. »Mohonk?« fragte er. »Stimmt das so?«
    Zwei Monate vorher, an jenem stickigen Julinachmittag, als Jan Pieterse den Laden geschlossen hatte, um in der Acquasinnick Bay Krebse zu fangen, und

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