Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
in Dickens’ Herzen eine Wunde, die nie ganz verheilte.
VOM ZEITUNGSSCHREIBER ZUM GEFEIERTEN AUTOR
Schon während seiner Tätigkeit als Parlamentsreporter begann Dickens mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, die er, zunächst ohne Honorar, im »Monthly Magazine« veröffentlichte. Im Herbst 1834 begann er mit der Serie »Sketches of London« (»Londoner Skizzen«), die er unter dem Pseudonym Boz für den neu gegründeten »Evening Chronicle« schrieb und die mit so großem Beifall aufgenommen wurden, dass sie 1836 als Buch erschienen. Der Erfolg der »Sketches by Boz« wurde noch dadurch vergrößert, dass der geniale Karikaturist George Cruikshank für die Illustrationen gewonnen werden konnte. Das Buch brachte Dickens 150 Pfund ein. Jetzt hatte er den Fuß in der Tür zum Ruhm, die sich weit öffnete, als er mit der Veröffentlichung der »Pickwick papers« (»Die Pickwickier«) in monatlichen Fortsetzungen begann. Ursprünglich sollte er nur die Texte zu einer Folge von »sporting scenes« des Karikaturisten Seymour schreiben. Doch er machte daraus sogleich sein eigenes Buch, was möglicherweise mit dazu beitrug, dass sich Seymour schon nach Erscheinen der ersten Nummer das Leben nahm. Als in Hablot Knight Browne ein neuer Illustrator gefunden war, steuerten Boz und Phiz (wie Browne sich nannte) auf einen sensationellen Erfolg zu. Nach der fünfzehnten der zwanzig monatlichen Folgen war eine Auflagenhöhe von 40 000 erreicht und der Name Dickens war in aller Munde. Hier hatte der junge Journalist nicht nur sein eigentliches Metier gefunden, er hatte zugleich die ihm gemäße Publikationsform entdeckt; denn die Veröffentlichung in Fortsetzungen ließ ihn zu einem Schauspieler des geschriebenen Wortes werden. Er stand auf der literarischen Bühne und schrieb für ein Publikum, auf dessen Beifall oder Ablehnung er unverzüglich reagierte. Die »Pickwick papers« waren erst bei der elften Nummer angelangt, da erschien bereits die erste monatliche Folge des nächsten Romans, »Oliver Twist« (ab Februar 1837). Hatte sich Dickens in seinem Erstling als unvergleichlicher Humorist erwiesen, so zeigte er jetzt seine andere Seite, die für ihn ebenso charakteristisch wurde. Das Buch schildert in düsteren Farben die Elendswelt jenseits der bürgerlichen Wohlanständigkeit, wobei Einrichtungen der Sozialfürsorge wie das Waisen- und das Arbeitshaus ebenso an den Pranger gestellt werden wie die kriminelle Unterwelt. Hier ist Dickens zum ersten Mal der Sozialkritiker, als der er bald weltberühmt wurde. Und schon hier wird das Schicksal der Mühseligen und Beladenen, zu deren Anwalt er sich machte, durch ein Kind verkörpert, was sich in seinen späteren Werken so oft wiederholte, dass man ihn geradezu als den Entdecker des Kindes in der Literatur bezeichnet hat.
CHARLES DICKENS’ WIRKUNG UND WIRKEN
Dickens’ hervorstechendstes Merkmal sind seine großen Augen. Auf allen Bildern sind sie es, die den Blick des Betrachters auf sich ziehen. Zutreffender hätte sich sein innerstes Wesen nicht ausdrücken können; denn er war ein Augenmensch durch und durch. Nur weil er selber seine Geschöpfe lebendig vor sich sah, konnte er ihnen so detailgesättigte Konturen geben, dass sie sich dem Leser noch heute unvergesslich einprägen. Dass Dickens mit den Augen nicht nur wahrnahm, sondern wirkte, wird von vielen Zeitgenossen bezeugt. Auf seinen Lesetourneen schlug die Ausdruckskraft seines Gesichts große Zuhörerscharen in Bann.
Dickens’ Grundhaltung war eine eigenartige Mischung aus Liberalität und Radikalität. Er hasste alle verkrusteten Institutionen und forderte in einem Aufruf »An die Arbeiter« vom Oktober 1854 fast unverhohlen zum Aufstand auf. Trotzdem hielt er nichts von einer Demokratisierung des parlamentarischen Systems. Er attackierte die kapitalistischen Fabrikunternehmer, sah aber in der gewerkschaftlichen Agitation der Arbeiter die gleiche inhumane Gesinnung. In ihm verkörperten sich beispielhaft alle Widersprüche, die das Viktorianische Zeitalter charakterisieren. Er kämpfte für fortschrittliche Sozialreformen und zugleich gegen die Fortschrittsideologie seiner Zeit, den Utilitarismus.
GEORGE CRUIKSHANK
(* 1792, † 1878)
Der Karikaturist und Kupferstecher Cruikshank zeichnete schon seit seinem achten Lebensjahr und machte sich mit originellen politischen Karikaturen einen Namen, in denen er politische und soziale Missstände geißelte. Er zeichnete zudem auch Illustrationen zu Romanen und
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