Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
als er bei der Vorbereitung einer seiner vielen privaten Theateraufführungen die junge Schauspielerin Ellen Ternan kennen lernte, nach dem klassischen Fall des älteren Ehemanns aus, der sich vor Toresschluss einer jungen Geliebten zuwendet. Doch diese Affäre nahm einen anderen, wenngleich bis heute nicht restlos aufgeklärten Verlauf. Zwar vollzog Dickens 1858 die förmliche Trennung von seiner Frau, der er auf wenig taktvolle Weise und in aller Öffentlichkeit die Schuld zuschob, das Verhältnis zu seiner Geliebten blieb jedoch ein Geheimnis, das nur die engsten Freunde kannten. Dabei ist noch immer ungeklärt, ob Dickens zu der jungen Schauspielerin überhaupt ein sexuelles Verhältnis hatte. Die einander widersprechenden Aussagen der Zeitzeugen scheinen, wenn man sie im Licht des dickensschen Werkes betrachtet, eher dafür zu sprechen, dass er hier in seinem Leben endlich das gefunden hatte, was er in seinen Romanen immer wieder als Traumbild beschwor: eine vom Liebreiz der Unschuld umgebene Kindfrau, der er in reiner Liebe verbunden war.
Schon einmal war ihm eine solche Kindfrau begegnet, nämlich in Gestalt seiner Schwägerin Mary. Wenn die idolisierte Unschuld für ihn tatsächlich einen so hohen Wert darstellte, ist es psychologisch wahrscheinlicher, dass er sich den Traum nicht durch die physische Liebe zerstört hat. Ähnliches ist aus den Biografien von Lewis Carroll, dem Autor von »Alice im Wunderland«, sowie von John Ruskin und anderen bedeutenden Zeitgenossen bekannt. Die Sehnsucht nach einer nicht entfremdeten, entsexualisierten Welt kindlicher Unschuld war eine spezifisch viktorianische Form des Traums vom verlorenen Paradies.
Noch im Jahr der Trennung von seiner Frau begann Dickens mit den ersten kommerziellen Lesungen seiner Werke in der Öffentlichkeit. Diese Veranstaltungen, die ihn im Lauf von zehn Jahren in vier kräftezehrenden Tourneen durch das ganze Land und schließlich zum zweiten Mal nach Amerika führten, brachten ihm sensationelle Erfolge und hohe Einnahmen. Da er zwischendurch seine neue Wochenzeitschrift »All the year round«, die 1859 an die Stelle von »Household words« getreten war, mit unverminderter Arbeitswut und wachem Geschäftssinn vorantrieb und dafür drei Romane schrieb, wundert es nicht, dass die Porträts des gerade erst Fünfzigjährigen ein schmales Gesicht mit tiefen Falten zeigen.
DIE SPÄTEN JAHRE
»A tale of two cities« (»Zwei Städte«, 1859) ist sein zweiter historischer Roman. Darin findet sich nichts von seinem unnachahmlichen Humor, nichts von der ins Groteske gesteigerten Phantasmagorie der früheren Romane und wenig von der poetisch blühenden Sprache, die ihn vor allen anderen Erzählern auszeichnete. Stattdessen spürt der Leser ein angestrengtes Bemühen, dem Historiengemälde der Französischen Revolution möglichst düstere Farben zu geben und die Ereignisse mit sorgsam gewählten Bildern gleichnishaft zu vertiefen. Kaum hatte er dieses Werk beendet, begann er im Dezember 1860 mit »Great expectations«, dem Buch, das heute als sein Meisterwerk gilt. Darin sind wieder alle typischen Merkmale versammelt: Humor, Skurrilität, groteske Traumbilder und eine symbolische Bilderwelt, die nichts von absichtsvoller Sinnbildlichkeit hat. Hinzu kommt eine straffe, zum Höhepunkt hin konzentrierte Handlungsführung, die das Buch trotz seiner Fülle kürzer ausfallen ließ als etwa »Bleak house« oder »Little Dorrit«. Zum zweiten Mal nach »David Copperfield« bediente er sich der Form des Ichromans. Doch anders als in dem stark autobiografisch gefärbten früheren Werk behielt er darin gegenüber seinem Icherzähler kritische Distanz und machte ihn zum Helden eines modellhaften Entwicklungsprozesses, bei dem das viktorianische Statusideal des Gentleman einer scharfen Kritik unterworfen und durch das moralische Ideal eines Gentleman des Herzens ersetzt wird. Nach dem Kraftakt der beiden Romane und des unmittelbar darauf folgenden Skizzenbandes »The uncommercial traveller« begann er erst 1864 einen neuen Roman, der sein letzter vollendeter werden sollte: »Our mutual friend«, ein Buch, das wieder alle typischen Merkmale seiner Kunst aufweist, darüber hinaus aber in einer Weise symbolisch vertieft ist, die ausgesprochen modern anmutet. Wenn im Zentrum des Romans riesige Müllberge stehen, die Reichtum und Abfall zugleich verkörpern, dann wird der ganze Roman durch die darin angelegte Thematik zu einem komplexen Gedicht, das wie eine viktorianische
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