Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
unglücklichen Poeten nahe. Fünf Jahrzehnte war es her, dass Lenz, der einstige Goethe-Freund, in halbwahnsinnigem Zustand für einige Tage bei dem philanthropischen Pfarrer Oberlin in Waldersbach im elsässischen Steintal Obdach gefunden hatte. »Lenz« ist die Fallstudie eines künstlerischen, psychischen und damit auch sozialen Gratwanderers, wie sie eindringlicher nie geschrieben wurde. Büchner offenbart hier eine bis zum Extrem gesteigerte Durchlässigkeit des eigenen Ich für die Inhalte und Identitäten eines anderen, der Autor Lenz wird aufgrund »verwandter Seelenzustände« (Ludwig Büchner) Medium eigener Ansichten und Befindlichkeiten.
Mit der »Lenz«-Novelle betrat Büchner literarisches Neuland: Neu ist die mitempfindende literarische Darstellung einer schizophrenen Psychose, neu sind auch die am Rande mitformulierten Grundsätze einer antiidealistischen Ästhetik: »Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ists gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel.« Doch die Novelle blieb unvollendet.
Im Sommer 1836 reichte Büchner bei der Hochschule in Zürich eine Abhandlung über das Nervensystem der Flussbarbe ein, wofür er wenige Wochen später den Doktortitel der Philosophischen Fakultät erhielt. Im Lauf desselben Jahres entstanden parallel zwei Dramen: Am 2. September 1836 berichtete er nach Hause, er sei »gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen«.
Die satirische Komödie »Leonce und Lena« war ursprünglich als Wettbewerbsbeitrag zu einem literarischen Preisausschreiben des renommierten Cotta-Verlags vorgesehen, dessen Einsendeschluss Büchner aus Nachlässigkeit knapp verpasste. Nach dem erst wenige Monate zurückliegenden Verbot der literarischen Avantgarde »Junges Deutschland« durch einen Beschluss des Deutschen Bundes 1835 konnte er kein Klartextstück riskieren. So griff er zu literarischer Schmuggelware und formulierte einen neuen, subversiven Text auf alter, romantischer Melodie, welche die strukturelle Anlage als auch Einzelheiten des Dialogs prägte. »Leonce und Lena« ist die Travestie des romantischen Lustspiels, eine Harlekinsjacke aus literarischen Versatzstücken, geschrieben mit der schwarzen Tinte des Hasses.
BÜCHNERS WERKE
Der hessische Landbote (1834)
Dantons Tod (1835)
Woyzeck (1836, erschienen erstmals 1878)
Leonce und Lena (1838)
Lenz (1839)
Doch das Lustspiel war ebenso wenig wie der »Danton« ein Agitationsstück, das den Leser für die soziale Umwälzung mobilisieren sollte. Die Möglichkeit einer Revolution von unten war für Büchner, ohne dass er seine Hoffnung auf eine Selbstbefreiung der Ausgebeuteten je aufgegeben hatte, mittlerweile in weite Ferne gerückt. 1835 schrieb er an seinen Bruder Wilhelm, er habe sich seit einem halben Jahr »vollkommen überzeugt, dass nichts zu tun« sei, »und dass jeder, der im Augenblicke sich aufopfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte« trage. So zeigte er in seinem Lustspiel zwar eine skurrile und erschöpfte, aber durchaus stabile Welt des Spätabsolutismus.
Dramatisches Gegenstück zum »höfischen« Lustspiel ist die soziale Tragödie »Woyzeck«, mit der Büchner, erstmals in der Geschichte der europäischen Literatur, einen sozialen Außenseiter zur dramatischen Hauptfigur machte: Nach dem Revolutionär Georges Danton, dem Dichter Lenz und dem Prinzen Leonce rückte Büchner nun mit dem Stadtsoldaten Franz Woyzeck, der im Zustand physischer wie psychischer Zerrüttung seine Geliebte ersticht, einen »Massencharakter« ins Zentrum seiner Dichtung, dessen Biografie geradezu ein Musterbeispiel für die Lage des sozial deklassierten Handwerks zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist. Die düstere Massenarmut, die zur Epoche ebenso gehört wie Dampfmaschine und Eisenbahn, Agrikulturchemie und Telegraf, grundiert das Stück und ist in vielen Details greifbar. In der Darstellung von Armut und entfremdeter körperlicher Arbeit gelangte Büchner auf eine Stufe der Konkretion, wie sie im deutschsprachigen Drama noch über Jahrzehnte undenkbar war. Sowohl die Stoffwahl als auch der Verzicht auf den üblichen hohen Tragödienton machen »Woyzeck« zu einem Meilenstein in der Entwicklung des Sprechtheaters. Auch »Woyzeck« blieb unvollendet, überliefert sind
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