Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
inzwischen verstorbene Anna – und nicht für die Wahrheit des Seins – die lebende Judith – zu entscheiden. Aufgrund seiner Neigung, »eine künstliche, allegorische Welt aus der Erfindungskraft« zu fingieren, kann er kein guter Maler werden. Auf dem Rückweg zu seiner Mutter steigt er bei einem Grafen ab, verliebt sich in dessen Nichte und lernt über sie den Atheismus Feuerbachs näher kennen. Heinrich entscheidet sich gegen den Künstlerberuf und dafür, seinen sozialen Beitrag im öffentlichen Dienst zu leisten.
GOTTFRIED KELLER UND FRIEDRICH NIETZSCHE
Friedrich Nietzsche, der Kellers Werke sehr schätzte – die »Leute von Seldwyla« hielt er für eines »der wenigen Werke der deutschen Literatur, die Bestand« haben würden – sandte Keller 1882 und 1883 zwei seiner Werke.
Keller, der Nietzsches Werke dagegen nicht unbedingt schätzte – Nietzsches »Geburt der Tragödie« betrachtete er als ein »knäbisches Pamphlet«, dessen »monotoner Schimpfstil ohne alle positiven Leistungen« ihn daran hinderte, es zu Ende zu lesen –, bedankte sich höflich für die zugesandten Werke und lud Nietzsche nach Zürich ein.
Der 1884 tatsächlich erfolgte Besuch Nietzsches löste bei beiden unterschiedliche Reaktionen aus: Während Nietzsche sich erschrocken zeigte von Kellers »entsetzlichem Deutsch«, meinte Keller im Gegenzug: »Ich glaube, dä Kerl ischt verruckt.«
In der Erstfassung geht Heinrich an Schuldgefühlen und der Einsicht in seinen unverantwortlichen Glauben an seine Einbildungskraft zugrunde, dem er nicht weniger als das Leben seiner im Gram gestorbenen Mutter geopfert hat. Keller überarbeitete diesen Schluss, indem er die Mutter bei Heinrichs Rückkehr erst im Sterben liegen lässt und somit Heinrichs Schuld mindert. Seinen Frieden erlangt Heinrich als Staatsdiener und nach der Rückkehr Judiths. In der Endfassung sind viele Szenen, Subjektivismen, Kommentare und Reflexionen des Erzählers getilgt oder umgeschrieben, auch etliche neue Episoden sind hinzugekommen. Den stärksten Eingriff in die Erstfassung bildet jedoch die durchgehende Ich-Form, die vorgibt, der Held würde Wahres berichten und somit Kellers realpoetisches Kunstmittel für seinen autobiografischen Roman darstellt.
NOVELLEN
Auch die 1856 erschienene und 1874 erweiterte Novellensammlung »Die Leute von Seldwyla« sind mit ihren teils humoristisch, teils sachlich distanzierten Beschreibungen sozialer Wirklichkeit, in der sich nonkonforme, oft komisch verzeichnete oder zum Widerstand entschlossene Individuen zurechtfinden müssen, Musterstücke des poetischen Realismus. Seldwyla ist eine Schweizer Stadt, in der sich Zeiterscheinungen, wie liberalistische und kapitalistische Ideen, biedermeierlicher Müßiggang und daraus resultierende menschliche Fehler und Unzulänglichkeiten aller Art eingeschlichen haben. Das Eindringen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wirklichkeit in die Biografie und in die Selbstwahrnehmung der Helden der einzelnen Novellen, poetisch vermittelt durch einen Erzähler, der dem Leser die Beschaffenheit des Zeitgeistes und der mit ihm konfrontierten Helden aus sozialdidaktischen Gründen humorvoll entfremdet, verbindet die Novellen miteinander. Die »Züricher Novellen« nehmen ebenso wie das »Sinngedicht« Kellers politische und weltanschauliche Einsichten auf, wobei auch hier die geschichtliche Realität als zerstörerisch dargestellt wird und das individuelle Ringen um eine sozial verantwortliche Existenz nicht über die damit verbundenen Ideale, sondern über deren reale Vergänglichkeit poetische und ethische Qualität erhält.
Auf seine Berliner Zeit gehen die Entwürfe zu den »Sieben Legenden« zurück, deren 1857 entstandene erste Fassung von Keller 1871 überarbeitet wurde. Inspirieren ließ sich Keller von den 1804 veröffentlichten, sentimentalen »Legenden« des Pfarrers Ludwig Theobul Kosegarten, deren Frömmlerei er als Anhänger Feuerbachs nicht ertragen konnte und deshalb parodierte. Die sieben mehr oder minder frommen Bekenner des Christentums erfahren durch göttliche Hilfe die Erfüllung irdischen Glücks, bekehren sich willig zur Welt und deren Sinnlichkeiten in Gott und beginnen gerade so ein gottgefälliges Leben. Vorgetragen werden die formvollendeten, in Spätantike und Mittelalter spielenden Geschichten im Märchenton und mit variantenreicher Ironie. Keller löste sich mit diesen Erzählungen, die vielleicht ausgerechnet deshalb sein erster Publikumserfolg beim
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