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Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Titel: Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brockhaus
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Feuerbach’schen Niveau bin. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten noch einen konstitutionellen Gott. … Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder erstem Konsul, … ich musste ihn absetzen.«
    Vor seiner endgültigen Rückkehr nach Zürich musste die Mutter aus der Verkaufssumme des Vaterhauses seine Schulden begleichen, die er nach eigener Aussage »in einem halben Jahre leicht verdient haben [würde] mit den angefangenen und bereits verakkordierten Arbeiten«. Keller sehnte sich nach einer bürgerlichen Existenz in häuslicher Atmosphäre, weil ihm »das Leben bei fremden Leuten und in den Wirtshäusern … zum Sterben verleidet« sei. Tatsächlich aber erlag er in Zürich einer siebenjährigen Depression. Seine Arbeiten wurden nicht fertig, von dem geringen Honorar konnte er nicht leben und die finanzielle Abhängigkeit von Mutter und Schwester blieb. Die Hoffnung auf eine Veränderung war verschwunden, der Wille und der Mut, eine solche zu bewirken, etwa indem er das Angebot, am Polytechnikum zu lehren, angenommen hätte, fehlten. Während der ersten Zeit ließ Keller seine Berliner Freunde noch an eine freudenvolle Existenz glauben und knüpfte neue und mühsam gepflegte Kontakte, so zu dem Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, dem Architekten Gottfried Semper, dem Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, dem Schriftsteller Paul Heyse, der Kaufmannsfamilie Wesendonk und Richard Wagner. In dem Publizisten und Romanschriftsteller Berthold Auerbach hatte er seinen Entdecker gefunden, dessen Lob er allerdings mit dem Bonmot kommentierte, er sei nicht nur »Auerbachs Keller«. Dennoch erfreute sich Kellers Werk keiner nennenswerten Nachfrage, erst 30 Jahre nach ihrem Erscheinen war die erste Auflage von 1000 Exemplaren verkauft.
    DIE VERDIENSTE DER REALISTEN
    Die großen Erzähler des deutschen Realismus waren zu ihrer Zeit weit weniger bekannt und finanziell weniger erfolgreich als heute vergessene Autoren. Die 1000 Exemplare der ersten Auflage von Gottfried Kellers »Grünem Heinrich« waren erst nach 30 Jahren verkauft, Keller selbst kaufte im Winter 1879/80 120 Exemplare der ersten Auflage vom Verleger zurück, um damit zu heizen. Kellers deutscher Schriftstellerkollege Wilhelm Raabe musste für die Veröffentlichung seines Werkes »Die Chronik der Sperlingsgasse« 50 Taler Druckkostenzuschuss zahlen, als Honorar erhielt er 50 Freiexemplare von insgesamt 1100 gedruckten.
    Für die Sicherung der Existenzgrundlage der heute bedeutenden Realisten sorgten Veröffentlichungen in auflagenstarken Familienzeitschriften wie »Die Gartenlaube« und »Westermanns Monatshefte«, oder wie im Fall Kellers, die Anstellung in einem den Lebensunterhalt sichernden »Brotberuf«.
    Die Abbildung zeigt die Titelseite der Erstausgabe von Kellers »Der grüne Heinrich« von 1854.
    KELLER UND DIE POLITIK
    1861 rang sich Keller schließlich dazu durch, sich um den Posten des Ersten Staatsschreibers des Kantons Zürich zu bewerben, den er trotz Vorbehalten gegen seine private Lebensführung und seine politische Gesinnung dank einflussreicher Fürsprecher erhielt und bis 1876 ebenso verantwortungsvoll wie engagiert ausfüllte. Sein Amt ließ ihm die ersten drei Jahre keine Zeit zum Dichten, danach aber entstanden die »Sieben Legenden«, der Schlussband der »Leute von Seldwyla« und die »Züricher Novellen«, und er fand auch die Zeit, frühere Entwürfe zu überarbeiten.
    ›Man ist immer froh, kleine Mängel an geliebten Personen zu finden, um sie nur ohne Verzug verzeihen und sogar mitteilen zu können.‹
    Gottfried Keller
    Keller war jetzt eine Person des öffentlichen Lebens und begann in seiner neuen Situation, seine alte, betont liberale Gesinnung, aus der heraus er noch vor kurzem die herrschende Friedenspartei kritisiert und zum Kampf gegen die Annexionspolitik Napoleons III. aufgerufen hatte, zu überdenken. Er hatte sich schon 1847 von »einem vagen Revolutionär und Freischärler … zu einem bewussten und besonnenen Menschen herangebildet« und arbeitete jetzt der Umwandlung der repräsentativen in eine plebiszitäre Demokratie entgegen. Den Grund für diesen scheinbaren Sinneswandel sieht man weniger in einem plötzlichen Opportunismus als in seiner Überzeugung, dass eine Revision der Verfassung oder eine gewaltsame Revolution Zürich, dessen damaligen liberalen Bürgermeister er schätzte, nur schaden könne. Keller beobachtete die Versuche gewaltsamer und planloser

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