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Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Titel: Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brockhaus
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Systemveränderungen in den Nachbarländern skeptisch, weil er den Staat als sich organisch entwickelndes Gebilde sah. Unter der Voraussetzung, dass die repräsentative Demokratie von integren Persönlichkeiten getragen würde, die ihrer Volksgemeinschaft genauso aufopfernd wie ihrer Familiengemeinschaft vorstehen, bedürfe es keiner verfassungsrechtlichen Knebelungen der Gemeinschaft. Man könne von einem aufgestülpten Demokratismus keine politischen und sozialen Verbesserungen erwarten, weil dieser auch dann seine Herrschaft behaupte, wenn keine ethischen Anforderungen an die Regierenden bestünden, selbstlos, mündig, kompetent und umsichtig zu entscheiden. Die Gemeinschaft und jeder Einzelne müssten im eigenen Interesse alles daran setzen, jeden Bürger zu einem uneigennützigen, überparteilichen Menschen zu erziehen, um das Gemeinwohl auf Dauer zu sichern. Hier, nicht in der Propaganda, sieht Keller die Aufgabe des Dichters und des Politikers. Kellers Liberalismus fußt mehr auf realpolitischer Praxis und dem klassischen Humanitätsideal als auf politischer Theorie und dem Vertrauen auf Institutionen. Kapitalismus und Sozialismus, die Verwirtschaftlichung von Politik, die Einmischung der Kirchen in dieselbe und die Entfremdung von Mensch und Natur, Individuum und Staat waren ihm zuwider.
    Seine politischen Gegner ließen Keller nicht ungeschoren. Nachdem seine Mutter 1864 gestorben war und Luise Scheidegger sich nach langem Zögern mit Keller 1866 verlobt hatte, nahm sich seine Braut das Leben – sie hatte zufällig Schmähartikel gegen Keller gelesen, die auf den rauf- und trinklustigen Staatsschreiber anspielten, aber bereits 1865 erschienen waren. Doch wurden trotz allem Kellers patriotische Gesinnung und seine politische Lyrik von den Zürchern durchaus gewürdigt. Man verlieh ihm zu seinem 50. Geburtstag die Ehrendoktorwürde. 1876 trat Keller von seinem Amt zurück, um sich dem Schreiben zu widmen.
    DIE PRODUKTIVEN JAHRE
    Die Jahre 1871 bis 1788 gestalteten sich trotz vieler Tiefschläge zu den produktivsten und schönsten in Kellers Leben. Er pflegte die Freundschaft mit dem Juristen Adolf Exner und dessen Schwester Maria und reiste mit ihnen 1873 an den Mondsee – der erste Urlaub seit seiner Amtszeit. 1874 besuchte er sie sogar in Wien. Keller wurde wegen seiner Dickleibigkeit bei einer Körpergröße von gerade 1,50 Metern immer unbeweglicher und verließ seine große Wohnung am Bürgli, in der er seit 1875 lebte, nur, um ins Wirtshaus zu gehen. Schließlich musste er, sehr zu seinem Verdruss, wegen des langen Siechtums seiner Schwester, die am 6. Oktober 1888 starb, ausziehen. Er befreundete sich mit dem Archäologen Karl Dilthey, seinem ersten Biografen Jakob Baechtold, mit dem Dramatiker Adolf Frey und, seit 1884, mit dem Maler Arnold Böcklin. Mit Paul Heyse, den allein Keller als ebenbürtig empfand, und Theodor Storm verband ihn eine Korrespondenz, doch wurde der persönliche Umgang mit ihm immer schwieriger. Er vereinsamte aus eigener Schuld immer mehr. Keller überarbeitete seine Gedichte, den »Grünen Heinrich« und seine Novellenzyklen, außerdem schuf er den Roman »Martin Salander« und die »Sinngedichte« neu. 1890 wurde Keller, dessen Geist trotz aller körperlicher Gebrechen hellwach geblieben war, endgültig bettlägerig. Ein halbes Jahr später starb er am 15. Juli 1890.
    »DER GRÜNE HEINRICH«
    Obwohl häufig als bedeutendster Bildungsroman neben Goethes »Wilhelm Meister« und Adalbert Stifters »Nachsommer« bezeichnet, lässt sich der »Grüne Heinrich« nur mit Vorbehalt in diese Tradition stellen; er beschreibt eben nicht den Heranbildungsprozess eines Künstlers, sondern den Desillusionierungsprozess eines Staatsdieners, der sich in seiner Jugend als Künstler sah und von diesem Selbstbild schmerzhaft Abschied nehmen muss. Das Scheitern des Helden Heinrich Lee an der Wirklichkeit trägt vielfach autobiografische Züge. Schon als Knabe stützt er sich eher auf die Fiktion als auf die Realität, etwa wenn er mittels einer erlogenen Geschichte erreicht, dass Mitschüler bestraft werden. Heinrich verkennt hinter seinem realpoetischen Wahrnehmen die Wirklichkeit, was zum Quell fortgesetzten Leidens wird. Er lernt von Goethe, die Dinge als organisch gewordene zu erkennen und lässt sich bei einem strengen Meister zum Maler ausbilden. In seiner Doppelliebe zur vergeistigten Anna und zur sinnlichen Judith begeht er wieder den Fehler, sich für die Idee – das Andenken an die

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