Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
Gutsadel sowie die Familie des Petersburger Höflings Kuragin. Die im Frieden angesiedelte Familienchronik zeichnet psychologisch genaue Charakterporträts, erzählt vom Leben der russischen Gesellschaft, von Gefühlen und Konflikten, von Geburt und Tod, von Reisen, Jagden, Feiern.
Wie Tolstoj selbst sind seine Figuren auf der Suche nach Lebenssinn und sittlichen Idealen. Die Schilderungen aus dem Krieg bilden einen Kontrast zur Familienchronik. Tolstoj verbindet authentische Darstellungen der Schlachten von Austerlitz und Borodino, Gespräche in Unterständen und Feldquartieren, Berichte aus dem Partisanenkrieg mit einer weiten geschichtsphilosophischen Sicht. Durch die Gegenüberstellung der familiären und der militärischen Welt, den häufigen Wechsel von Schauplätzen und Stimmungen entsteht eine Spannung, die Tolstoj durch unterschiedliche Erzähltechniken virtuos variiert.
Als er wieder nach Hause zurückgekehrt war, verfasste er eine Fibel und vier Lesebücher für Kinder. Dann machte er sich an einen neuen Roman: Die Geschichte einer ehebrecherischen Frau – »Anna Karenina«. Am 18./19. März 1873 begann er mit dem Schreiben. Den Anstoß dazu hatte offenbar die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Aleksandr Puschkins gegeben. In den Roman, der eine Chronik dreier Familien beinhaltet, flossen viele autobiografische Momente sowie eigene Eheprobleme ein. Das zu einem frühen Zeitpunkt gewählte biblische Titelblattmotto »Mein ist die Rache, ich will vergelten« begleitete alle Arbeitsetappen bis zur Schlussfassung von 1877. Dostojewskij schrieb im »Tagebuch eines Schriftstellers« (1877) eine enthusiastische Würdigung von »Anna Karenina« und schloss, dass »nichts in dieser Art in der europäischen Literatur damit verglichen werden könne«.
DIE LEBENSKRISE
Die von Tolstoj unaufhörlich gestellten Fragen nach dem Sinn des Lebens wuchsen sich in den 1880er-Jahren zu derartiger Wucht aus, dass sie zu einer tief greifenden Krise führten. Diese Zuspitzung war animiert durch den Pessimismus des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer, durch eine bedrückende Vision des eigenen nahenden Todes, die Tolstoj im Jahr 1884 in seinen »Notizen eines Wahnsinnigen« beschrieb, sowie durch seine aktuellen Lebensumstände.
Wieder einmal gewann der Moralist die Oberhand in der widersprüchlichen Person Tolstoj. Er sah seine Existenz im Kontrast zu seinen Prinzipien, die sich vermehrt auf eine Verbrüderung mit den Armen richteten. Tolstoj trug sich mit dem Plan, eine neue, nur auf der Lehre Christi beruhende Religion zu schaffen, »gereinigt von Dogmen und Mystik«. Was daraus wurde, war weit eher die moralistische und gelegentlich auch anarchistische »Wahrheit« Tolstojs als die »Wahrheit« der Kirche: Privatbesitz sei ebenso abzuschaffen wie die unumschränkte Verfügungsgewalt des Staates, die Modernismen der Zivilisation seien durch die allgemeine Rückkehr zur Scholle zu kompensieren – Forderungen, deren Radikalität utopisch bleiben musste, hätte sie doch jede menschliche Gesellschaft zur Weltflucht verleitet.
1881 übersiedelte die Familie Tolstoj nach Moskau. Dem Dichter wurde erstmals die erschreckende Armut in vielen Wohnvierteln der Hauptstadt bewusst. Umso mehr schämte er sich des eigenen Wohlstands. 1882 kehrte er nach Jasnaja Poljana zurück und überließ in Moskau seiner Frau, die gerade das achte Kind auf die Welt gebracht hatte, die Sorge für die Familie. Die Tragödie dieser Ehe spitzte sich jetzt immer dramatischer zu. Noch hatte sie allerdings ihren Gipfel nicht erreicht. Tolstoj konnte noch einmal Kraft sammeln für weitere literarische Glanzleistungen. Zwischen 1884 und 1886 schrieb er eine seiner gewaltigsten Erzählungen: »Der Tod des Iwan Iljitsch«. Das Hauptproblem dieser späten Schaffensphase scheint für Tolstoj aber nicht im Todesthema, sondern vielmehr in der Sexualität und ihrer Einwirkung auf den Menschen gelegen zu haben. Ihr sind vor allem zwei Erzählungen gewidmet, die grandiose »Kreutzersonate«, 1889/90 zu Papier gebracht – wie aus Angst vor Obsessionen die Asexualität in der Ehe predigend –, und die in etwa zeitgleiche Geschichte »Der Teufel«, die nun umgekehrt alle Phasen sexueller Besessenheit durchspielt. Zur selben Zeit begann Tolstoj auch mit seinem dritten großen Roman, »Auferstehung«. Nur langsam kam er mit ihm voran; erst 1899 brachte er ihn zum Abschluss. Alle existenziellen und sozialkritischen Themen, die ihn zeitlebens beschäftigt
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