Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
Leibeigenen zu helfen, für deren beklagenswertes Schicksal er sich mitverantwortlich fühlte. Doch die blieben seinen philanthropischen Anstrengungen gegenüber misstrauisch. Enttäuscht ging Tolstoj nach Moskau und Sankt Petersburg, wo er viel Geld verspielte, Schulden machte und sich mit Frauen einließ. Unruhe hatte ihn gepackt. Er tat mal dies, mal das – und er versuchte sich als Schriftsteller. Im Januar 1851 hatte er vor, eine Geschichte seiner Kindheit zu verfassen. Stattdessen aber schrieb er vom 18. bis zum 28. März die »Geschichte des gestrigen Tages« (1926 veröffentlicht), ein erstaunliches Erstlingswerk weniger wegen seiner literarischen Qualität, sondern vielmehr wegen der darin zum Ausdruck kommenden Beobachtungsgabe, der Leidenschaft für die Wahrheit und der Selbstanalyse.
Im Mai 1851 entschloss sich Tolstoj, seinen Bruder Nikolaj zu begleiten, der als Offizier in den Kaukasus versetzt wurde. Dazu trat er selbst als Kadett ins Militär ein. Er tat sich hervor beim Trinken, Kartenspielen und bei der Jagd nach Frauen. Daneben beschäftigte er sich ernsthaft mit literarischen Projekten. Am 4. Juli 1852 beendete er den autobiografischen Roman »Kindheit«, in dem die Besonderheiten der tolstojschen Schreibweise schon deutlich werden: die Sondierung von Bewegungen, Gesichtsausdrücken, Stimmungen, die schonungslose Demaskierung alles Falschen, Unaufrichtigen im Menschen, die Neigung zu Abschweifungen und Kommentaren, ohne dabei das Grundanliegen jemals aus dem Blick zu verlieren.
Im Frühjahr 1853 reichte Tolstoj sein Abschiedsgesuch ein, das aber nicht angenommen wurde, weil Russland gerade jetzt einen Krieg mit der Türkei begann. Tolstoj beantragte deshalb die Versetzung zur Fronttruppe, um dem langweiligen Garnisonsdienst zu entfliehen. Die Wartezeit füllte er mit einer Reihe von Erzählungen aus, darunter als eine der bekanntesten »Die Kosaken«, die freilich erst zehn Jahre später vollendet und publiziert wurde. Sein Ansehen in literarisch interessierten Kreisen wuchs zusehends. Im Januar 1854 erfolgte die lang ersehnte Versetzung, zunächst zur Donau-Armee, damals in Bukarest stationiert, und bald darauf auf die Krim, wo der Krieg mittlerweile in vollem Gange war. Tolstoj nahm an der Verteidigung der Festung Sewastopol teil, und beendete 1856 seine bekannten drei Sewastopoler Erzählungen, eine erschütternde Auseinandersetzung mit der vielschichtigen Rolle des Menschen im Krieg. Bereits in der ersten Erzählung verkündete der Autor seinen Lesern: »Sie werden schreckliche und traurige, großartige und amüsante, aber immer erstaunliche, die Seele erhebende Bilder zu sehen bekommen.« Nach dem Erscheinen der Erzählungen war Tolstoj einer der berühmtesten Schriftsteller, wenigstens in Russland. Von jetzt an sah er in der Literatur seine Lebensaufgabe.
DER KAMPF ZWISCHEN GUT UND BÖSE
Schreiben – das war ab 1855 die vordringliche Maxime Tolstojs, und damit verbunden: »Mit Überlegung zur Einigung der Menschen durch Religion beizutragen, ist der Grundgedanke, der mich, wie ich hoffe, beherrschen wird.« Dieser Gedanke beherrschte ihn wirklich, verhinderte aber nicht, dass jene Widersprüchlichkeit, die Tolstojs ganzes Leben charakterisierte, ebenfalls zu ihrem Recht kam. 1855 musste er, um seine Spielschulden zu bezahlen, den Haupttrakt des Herrenhauses Jasnaja Poljana verkaufen. Es wurde abgerissen und in etwa 30 Kilometer Entfernung wieder aufgebaut. An seiner Stelle wurde ein kleineres Gebäude errichtet, das heute noch steht. Tolstoj steckte, wie solche Ereignisse zeigen, voller Inkonsequenzen. Die Meinungen über seine Person fielen entsprechend unterschiedlich aus. Maksim Gorkij sagte einmal: »In Lew Nikolajewitsch ist etwas, was zeitweilig in mir Hassgefühl erweckt … Seine über alle Maße hinausgewachsene Persönlichkeit ist eine monströse Erscheinung, beinahe abstoßend hässlich …«
Der junge Zar Alexander II. schaffte 1861 die Leibeigenschaft ab. Doch könnte die Reform nicht auch dazu führen, das »gesunde, einfache Volk« zu entwurzeln? Tolstoj nahm darin lange Zeit eine schwankende Haltung ein, ehe er sich innerlich für die Bauernbefreiung entschied. Der Gutsherr, 1856 aus der Armee ausgetreten, machte ein Jahr später Walerja Arsenewa, der Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers, den Hof. In Petersburg stand er im Mittelpunkt des literarischen Lebens, eingeführt von Iwan Turgenjew – den Tolstoj bald als literarischen Rivalen betrachtete und mit recht
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