Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
behandelt werden sollte – doch die Mühe war vergeblich. Der Todeskampf des Bruders machte einen so starken Eindruck auf ihn, dass man diesen Zeitpunkt als Wendemarke in Tolstojs Leben sehen darf. Jahre später schrieb er: »Ich kann jetzt nichts anderes sehen, als dass Tag um Tag, Nacht um Nacht vergehen und mich dem Tode näher bringen. Dies allein sehe ich, denn dies allein ist wahr. Alles andere ist unwahr.«
›Die allerwichtigste Sache ist: Gutes tun, weil nur dafür der Mensch lebt.‹
Lew Tolstoj
Auf seinen Reisen fuhr Tolstoj auch nach Belgien und besuchte den Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon, dessen Ideen (»Eigentum ist Diebstahl«) ihn tief beeindruckten. Als er er wieder in Russland war, vollendete er etliche Erzählungen, darunter »Polikuschka« (1863), die überzeugend geschriebene Geschichte vom tragischen Schicksal eines Leibeigenen. Die Schriftstellerei hatte ihn wieder. Rasch wurde Tolstoj nun zur überragenden literarischen Autorität in Russland. Nur Fjodor Dostojewskij ist ihm ebenbürtig an die Seite zu stellen.
»KRIEG UND FRIEDEN« UND »ANNA KARENINA«
Tolstoj schrieb anfangs weiterhin Erzählungen. Dann, nach einer Krankheit und einer Kumys-, einer Pferdemilchkur, unternahm er einen Schritt, der sein Leben in einer Art prägte, die er sich nicht träumen ließ: 1862 besuchte er in Moskau einen alten Freund, den Arzt Andrej Bers. Von dessen drei Töchtern verliebte sich die älteste, Lisa, in den Dichter. Tolstoj aber glaubte, dass eine andere Tochter besser zu ihm passe – im September 1862 ging er die Ehe mit der hübschen, 18-jährigen Sofja Andrejewna Bers ein. Tolstoj ließ sie seine alten Tagebücher lesen, in denen seine sexuellen Abenteuer minutiös aufgeführt waren, und bereits auf der Reise von Moskau nach Jasnaja Poljana erfuhr die junge Frau die Liebesgier ihres Gatten am eigenen Leib. Sie, die der körperlichen Liebe eher verhalten gegenüberstand, ahnte Schlimmes. Doch sie fügte sich zunächst und tat alles, um ihren Mann nicht nur in libidinösen, sondern auch in praktischen Dingen zu entlasten. Tolstoj konnte sich auf seine größte Leistung konzentrieren, auf sein Meisterwerk »Krieg und Frieden«.
TOLSTOJ UND DOSTOJEWSKIJ – ANTIPODEN IM RUSSISCHEN REALISMUS
Lew Tolstoj und Fjodor Dostojewskij, die großen Erzähler des russischen Realismus sind stets als Antagonisten betrachtet worden, als Verkörperungen entgegengesetzter »Seinskonzepte«.
Tolstoj ist der Psychologe der alltäglichen Situation, Dostojewskij der der Grenzsituationen. Tolstoj gestaltet die Psychologie des Charakters, Dostojewskij die der Idee. Bei Tolstoj entwickelt sich das Bewusstsein prozessual unter dem Einfluss der äußeren Situation und wechselnder Ideen. Bei Dostojewskij hat das Bewusstsein eine räumliche Struktur, in der widersprüchliche Regungen zugleich wirksam sind.
Der amerikanische Autor George Steiner stellte 1959 den »Epiker« Tolstoj dem »Dramatiker« Dostojewskij gegenüber, den Rationalisten dem Visionär, den Heiden dem Christen. Schon 1900 hatte Dmitrij Mereschkowskij den »Seher der Seele« Dostojewskij mit dem »Seher des Fleisches« Tolstoj konfrontiert. Für den marxistischen Autor Wikentij Weressajew war Tolstoj die »Verkörperung lebendigen Lebens«, während Dostojewskij besessen vom Kranken und Sterbenden war.
Das Konzept des monumentalen Romans, der zwischen 1856 und 1869 geschrieben wurde, ist äußerst verworren. Inhaltlich schildert das Epos den Sieg der russischen Armee und des russischen Volkes über Napoleon – ein vielfarbiger, gewaltiger Stoff, der Tolstoj die ideale Gelegenheit bot, alle Facetten seines genialen Talents zu entfalten. Mit dem historischen Teil verbindet sich eine Familienchronik. Die künstlerische Qualität dieses Romans erhebt Tolstoj in die höchsten Gefilde der Weltliteratur. Dies gilt ebenso für sein zweites Meisterwerk, das schon bald folgen sollte.
Nach der immensen Arbeit an »Krieg und Frieden« stand es mit Tolstojs Gesundheit nicht zum Besten. Er unterzog sich deshalb im Sommer 1870 erneut einer Kumyskur in den Steppen von Samara, bei den Baschkiren-Nomaden. 1872 kaufte er sich in dieser Gegend sogar ein Gut, um Pferde zu züchten.
»KRIEG UND FRIEDEN«
Tolstoj schuf mit seinem Werk »Krieg und Frieden« (1868/69) ein breites Geschichts- und Gesellschaftspanorama vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege in den Jahren 1805 bis 1812.
Im Zentrum stehen die Familien Rostow und Bolkonskij aus altem russischem
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