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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Hand.
    »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte er.
    »Ich bin mit dem Kopf voran in einen Glascontainer gefallen«, antwortete ich, ohne zu zögern. »Und hinterher in eine Schlägerei geraten.«
    Dann drehte ich mich um und ging zurück zur Tür, und ich wusste, dass der Mann mir nachguckte. Ich hasste seinen Blick.
    Der Sohn des Mannes stand noch immer bei den Postkarten und lauschte der Musik aus seinen Ohrstöpseln. Ich wollte sie aus seinen Ohren reißen. Ich wollte ihn anschreien. Es gibt Leute, die haben keinen MP3-Player!, wollte ich schreien. Es gibt Leute, die sind so alt wie du und wühlen im Kompost und wachen morgens auf, weil sie vor Kälte nicht mehr schlafen können! Aber dann dachte ich plötzlich an Rikikikri. An den weichen Flaum seiner Halsfedern unter meiner Hand. Und an die Sterne in den Ästen über unserem verglimmenden Feuer. Da tat der andere Junge mir leid. Er hatte keinen Seeadler zum Freund, und keine Schwester, die Wunden heilen und mit den Adlern fliegen konnte. Er hatte gar nichts, und ich hatte alles!
    Meine Wut war verschwunden. Ich sah Olin in den Schatten neben der Tür stehen, und vielleicht trat ich deshalb zu dem fremden Jungen. Um Olin zu zeigen, dass die Sanftmut der weißen Königin besser war als Olins Wut.
    Ich tippte dem Jungen auf die Schulter, und er zuckte zusammen und drehte sich um. Seltsam, als er mir ins Gesicht sah, kam er mir auf einmal bekannt vor. Vielleicht hatte er irgendwann im Landrover seines Vaters gesessen und ich im Bus zur Schule, und ich hatte ihn deshalb schon einmal gesehen.
    »Was für Musik hörst du denn da?«, fragte ich, nur so.
    »Keine Musik«, antwortete der Junge. »Oder doch Musik. Vielleicht.« Er gab mir einen Ohrstöpsel. Und ich erschrak.
    Aus dem Stöpsel kam die Stimme der weißen Königin.
    »Klingt meine Linde«, sagte sie, »singt meine Nachtigall.«
    Ich riss den Stöpsel aus meinem Ohr und starrte ihn an. »Das, das ist …«
    »Eine Geschichte«, antwortete der Junge. »Sie liest eine Geschichte vor. Für mich. Sie hat sie auf Band gesprochen, zu meinem letzten Geburtstag.«
    Sie.
    Die weiße Königin.
    Ich sprach ihren Namen nicht aus. Er schwebte zwischen uns in der Luft.
    »Für mich hat sie auch einmal vorgelesen«, sagte ich.
    Der Junge sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Und ich fand es wichtig zu wiederholen, was ich gesagt hatte. »Für mich hat sie auch einmal vorgelesen. Vor ihrer Reise.«
    »Woher weißt du, dass sie verreist ist?«, fragte der Junge.
    »Weil sie mir das gesagt hat«, antwortete ich leise. »Damals. Nur hat es nicht gestimmt, oder? In Wirklichkeit ist sie gestorben.«
    Da sah mich der Junge wieder an, als hätte ich sie nicht alle.
    »Quatsch«, sagte er. Und dann: »Wann war damals?«
    »Damals war damals«, murmelte ich. Ich wollte sagen: Ehe der schwarze König kam. Aber der schwarze König ging den Jungen mit dem MP3-Player nichts an. »Ich weiß nicht. Ein paar Jahre.«
    »Sie hat wirklich mal eine lange Reise gemacht«, sagte der Junge mit dem MP3-Player. »Einmal um die Welt oder so. Um alle alten Freunde zu besuchen. Später, hat sie gesagt, kann sie das dann nicht mehr.«
    »Aber sie ist … ist sie zurückgekommen?«, flüsterte ich.
    »Klar ist sie«, sagte er.
    Ich schluckte. Die weiße Königin war nicht tot. Sie war verreist und war zurückgekommen. Aber zu mir, zu mir war sie nicht zurückgekommen.
    »Wo ist sie denn?«, fragte ich sehr leise.
    »Berlin«, sagte der Junge. Dann musterte er mich von oben bis unten und fügte hinzu: »Du bist komisch.« Und dann guckte er sich die Postkarten weiter an und lauschte den Worten aus seinem MP3-Player, den Worten der weißen Königin. Und ich war mir auf einmal sehr sicher, dass dies die Kirche war, in der sie uns vorgelesen hatte. Aber die Worte hatten nicht auf mich gewartet zwischen den Kirchenbänken.
    Ich würde selbst zu den Worten finden müssen.
    Ich rannte den Elf-Schritte-Weg mit vier Schritten entlang. In mir sang es. Ich schlüpfte durch das nicht mehr verschnörkelte Gittertor, ich rannte über die Kuhweide und rannte undrannte und rannte, bis ich am Waldrand ankam. Dort ließ ich mich auf den Boden fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich saß lange am Waldrand.
    So lange, bis ein Schatten über die Wiese glitt und Rikikikri neben mir landete. Olin war nirgendwo zu sehen, doch ich merkte, dass ich die Tüte mit unserem Fund vom Kompost in der Hand hielt. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sie mir

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