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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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die Tüte gegeben hatte.
    Mein Adler sah mich an, seine gelben Augen fragend.
    »Rikikikri«, flüsterte ich. »Sie lebt! Sie lebt, und ich habe sie mir nicht ausgedacht. Sie ist in Berlin.«
    In Berlin, dachte ich, an einem völlig realen Ort in der ganz normalen Wirklichkeit. Einem Ort, von dem ich sogar wusste, in welcher Richtung er lag.
    »Der schwarze König hat vielleicht mit seiner dunklen Magie verhindert, dass sie hierher zurückkommt«, fuhr ich fort. »Hierher zu mir. Rikikikri, weißt du, was wir tun werden? Wenn sie nicht hierherkommen kann?«
    Mein Adler sah mich weiter an, und ich wusste, dass er die Antwort auf diese Frage kannte. »Wenn sie nicht kommen kann, gehen wir zu ihr«, wisperte ich. »Wir werden sie finden.«
    An jenem Tag tauchte Olin nicht mehr auf. Vermutlich war sie beleidigt, weil ich nicht auf sie gehört hatte und in die Kirche gegangen und dann einfach an ihr vorbeigerannt war.
    Abends aß ich das Brot vom Kompost allein. Es war steinhart, man musste daran nagen. Ich dachte wieder an die Messerim Haus meines Vaters. Nein, sagte ich mir, ich brauchte kein Messer.
    Am nächsten Morgen grub ich mit den Fingern im losen Laub neben der Feuerstelle, ohne an etwas Besonderes zu denken, und da fand ich Olins Feuerzeug. Hatte sie es dort vergessen? Oder hatte sie es in der Nacht dort für mich hingelegt?
    Ich sah lange zu, wie Rikikikri und Aarak über ihrer Esche kreisten und sich schließlich darauf niederließen. Aarak warf einen Blick über den Rand des Horstes, einen Blick zu mir, misstrauisch. Eigentlich wollte ich nicht hier landen, sagte der Blick, solange du da bist und zusiehst. Dieser Horst ist nicht mehr sicher. Nicht mit einem Menschen in der Nähe.
    In diesem Moment hörte ich zum ersten Mal, dass noch jemand in dem Horst saß. Jemand, der ein hohes, feines Fiepen von sich gab. Es durchfuhr mich wie ein Blitz aus Stolz und gleichzeitig ein Donnerschlag aus Neid:
    Mein Adler hatte Junge. Er hatte eine Familie. Er war freundlich zu mir wie zu einem geduldeten Gast. Er brauchte mich nicht. Ich würde ohne ihn nach Berlin gehen. Es tat weh, das zu denken.
    Die nächsten Tage verbrachte ich damit, Rikikikris Wald zu erkunden. Noch konnte ich nicht aufbrechen in die Richtung, in der Berlin lag, auch wenn ich am liebsten sofort losgerannt wäre, hinein in den grünen Sommer, der vor mir lag. Es nützte nichts, sagte ich mir, irgendwohin loszurennen, wenn man nicht sicher war, wie man auf dem Weg überleben und ob man jemals ankommen würde. Ich musste erst lernen, mich völligallein in der Natur zurechtzufinden. Wenn ich das konnte, hatte ich eine Chance.
    Denn ich würde zu Fuß nach Berlin gehen. Natürlich gab es Züge, und ich dachte darüber nach, einen zu benutzen. Ich dachte ungefähr zwei Minuten lang darüber nach. In Zügen gab es Fahrkartenkontrolleure, und ich hatte kein Geld für eine Fahrkarte. Und ein Auto anzuhalten, schien mir zu riskant.
    Wenn jemand einen elfjährigen Jungen am Straßenrand stehen sieht, der per Anhalter nach Berlin fahren will, fragt sich dieser Jemand sicherlich, ob der Junge nicht in die Schule gehörte oder nach Hause …
    Nein, ich würde zu Fuß gehen, auch wenn es weit war.
    Die weiße Königin würde auf mich warten.
    Ich würde zu einem Geschöpf des Waldes werden wie Olin. Für so ein Geschöpf wäre der Weg zur weißen Königin leicht.
    Lange, lange wanderte ich in Rikikikris Wald umher und versuchte, die Sprache der Bäume und des Windes zu lernen. Ich sammelte Sauerklee und Löwenzahn, doch noch war es Rikikikri, der die Fische für mich fing, die ich mühsam mit Stöcken und Steinen zerteilte und über dem Feuer briet.
    Olin blieb verschwunden, aber der Wald blühte auf und es wurde wärmer. Ich hatte angefangen, mich nachts mit totem Laub zuzudecken wie ein überdimensionaler Igel, und nun brauchte ich nicht mehr so viel von dem Laub.
    Ich fragte mich, wie lange das Feuerzeug halten würde. Ich wünschte mir ein Messer. Ich wünschte mir eine Angel. Ich wünschte mir einen Topf, um über dem Feuer Tee aus Blätternzu kochen. Sosehr ich mich auch bemühte, ein Geschöpf des Waldes zu werden: Mit einer Angel im Gepäck und einem Messer in der Tasche und einem Topf war es wohl doch leichter, nach Berlin zu kommen.
    Alle diese Dinge waren im Haus meines Vaters. Aber das Haus meines Vaters war zum Schloss des schwarzen Königs geworden. Wenn ich auch nur daran dachte, zurückzugehen, wurde mir übel.
    Und dann lag eines Morgens ein toter

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