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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Hase neben der Feuerstelle, den Rikikikri mir gebracht hatte.
    »Danke!«, flüsterte ich gerührt. »Danke, mein Rikikikri! Aber wie soll ich ihn essen, wenn ich ihn nicht häuten kann? Ich bin keines von deinen Jungen. Ich bin ein dummer Mensch, der ein Messer braucht, wenn er überleben will.«
    Als mein Adler zu seinem Horst geflogen war, ging ich zum Wasser. Ich suchte den Hochsitz in der Buche und stieg hinauf. Oben legte ich die Hände an den Mund und rief. Denn ich hatte einen Entschluss gefasst.
    »Olin! Ooooliin! Ich gehe zurück! Ich gehe zurück zum schwarzen König und hole das Messer!«
    »Du brauchst gar nicht so herumzubrüllen«, sagte Olin.
    Vor Schreck wäre ich beinahe von dem Hochsitz gefallen. Sie saß ein paar Astgabeln über mir und baumelte mit den Beinen. »Bring eine Decke mit«, sagte sie, »und einen Rucksack.«

7. Kapitel
    Ich hatte einen Sohn
    U nd so kehrte ich zurück zum Haus meines Vaters. Ein letztes Mal.
    »Viel Glück«, sagte Olin am Waldrand, wo die Kühe in einem leichten Nieselregen grasten.
    »Kommst du nicht mit?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Das hier musst du allein tun. Aber ich gebe dir etwas mit.« Sie griff nach meiner Hand, und ich dachte, sie wollte etwas hineinlegen. Doch sie drückte sie nur, ganz fest – so fest, dass ich aufschrie vor Schmerz.
    »Das ist meine Wut«, flüsterte Olin. »Ein Stück davon. Nimm sie mit. Du kannst sie brauchen.« Sie ließ meine Hand los und nickte zu den Kühen hinüber. »Eine verschließbare Flasche für die Milch wäre auch eine feine Sache.«
    Auf der Kuhweide saßen wieder ein paar Adler. Sie flogen auf, als ich vorbeikam, aber einer von ihnen blieb über mir in der verregneten Luft wie ein Schatten. Ich sah den Ring an seinem linken Bein.
    Nein, ganz allein würde ich nicht zurückgehen. Rikikikri war bei mir. Und vielleicht schaffte ich es nur deshalb. Ich lief denungeteerten Weg entlang, am Zaun des Mannes vorbei, dem mein Vater vor Jahren einen Hasen verkauft hatte. Bei der Kirche wollten meine Beine stehen bleiben. Es war, als wehte ein starker Wind aus der Richtung, in der das Haus meines Vaters lag. Da hörte ich den Ruf meines Adlers über mir, und ich zwang meine Beine weiter.
    Ich begann zu rennen.
    Hinunter zur Straße, die Straße entlang, den Feldweg hinab, den ich früher jeden Samstag gegangen war. Meine Füße fielen in einen Rhythmus, der mit den Worten der weißen Königin übereinstimmte. Klingt meine Linde, rannte ich, singt meine Nachtigall, klingt meine Linde … Die Worte trugen mich bis zu einer Ansammlung von Ruinen im Holundergebüsch.
    Dort blieb ich stehen und atmete tief durch. Kurz darauf rauschte es über mir in der Luft – vielleicht hört sich so eine klingende Linde an, dachte ich. Doch zum Glück war es keine Nachtigall, die auf meiner Schulter landete. Es war Rikikikri. Er war zu schwer und zu groß, um auf meiner Schulter zu landen, und so flog er wieder auf, aber ich dankte ihm im Stillen für den Versuch. Er setzte sich auf das Dach des Hauses, in dem früher mein Vater und ich gewohnt hatten. Von dort sah er zu mir hinab.
    Ich ging um das Haus herum, in den Hof.
    Es war still zwischen den Lehmziegelwänden, sehr still. Das einzige Geräusch war das des Regens. Er war stärker geworden. Die Hühner sahen mich aus müden Augen an.
    »Ihr seid lange nicht gefüttert worden, was?«, flüsterte ich. »Der schwarze König hat euch vergessen.« Und ich öffnete dasTürchen zu ihrem Gehege weit und legte einen Stein davor, sodass es nicht mehr zufallen konnte. »Lauft weg!«, sagte ich zu den Hühnern. »Sucht euch euer Futter anderswo! Überall ist es besser als hier.«
    Das Gehege hatte eine Art Dach aus Maschendraht, und die Freiheit hatte kein Dach. Aber wenn der Habicht die Hühner fraß, war das immer noch besser, als wenn sie verhungerten.
    Nachdem ich die Hühner befreit hatte, fühlte ich mich mutiger. Die Vordertür war nicht abgeschlossen, und ich schlüpfte leise hindurch. Vielleicht würde ich dem schwarzen König direkt in die Arme laufen. Vielleicht saß er in der Küche, den Ziegenstrick auf dem Schoß. Mein Atem ging hektisch. Es war schwer, etwas zu hören außer meinem eigenen Atem und meinem panischen Herzschlag. Bis ich begriff, dass da nichts war außer meinem Herzschlag und meinem Atem. Auch im Haus war es still, so still wie in den Ruinen im Holunder.
    Wie lange war ich fort gewesen? Das Haus sah aus, als wohnte seit Monaten niemand mehr

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