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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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darin. Ich hatte vorgehabt, etwas Essbares aus der Küche mitzunehmen. Doch es gab nichts Essbares dort. Auf der Anrichte standen mehrere Töpfe mit verkrusteten Resten. Im Kühlschrank standen zwei Flaschen Bier, und daneben lag etwas Braunes, halb Flüssiges, was vielleicht einmal Gemüse gewesen war. In der Spüle fand ich eine offene Dose mit Ravioli. Eine dicke Schimmelschicht bedeckte sie.
    »Aber das macht nichts«, murmelte ich, »solange man Ravioli hat …«
    Ich fasste die Dose nicht an. Es machte doch etwas. Es gab Grenzen.
    Auf dem Esstisch standen Flaschen. Lauter leere Flaschen. Dazwischen lagen Zigarettenkippen. Der Fernseher lief, ohne Ton. Wahrscheinlich war der Ton inzwischen ebenfalls kaputt. Die Leute im Fernseher waren jetzt hoch und dünn.
    Ich sammelte ein paar Dinge zusammen: einen Rucksack, eine Decke, einen Topf, eine Saftflasche. Ich suchte lange, bis ich die Saftflasche fand. Ich wollte keine Schnapsflasche mitnehmen. Schließlich fehlten nur noch die wichtigsten Dinge: die Angel und das Messer. Die Messer lagen in einer Schublade im Schlafzimmer meines Vaters. Die Angel hing dort an der Wand. Ich schlich die Treppe hoch wie eine Katze. Noch immer war alles still. Vielleicht war der schwarze König fortgegangen. Vielleicht war der schwarze König tot.
    Er war nicht in seinem Schlafzimmer. Nur abgestandene, durchdringend saure Luft war dort, Luft wie Gift. Ich widerstand dem Drang, das Fenster zu öffnen. Ich steckte die Angel und ein Messer in meinen Rucksack. Geld fand ich keines, nirgendwo, nicht ein einziges Zehncentstück. Das Gewehr meines Vaters lehnte neben dem Bett an der Wand, achtlos abgestellt. Es gehörte in einen verschlossenen Schrank. Ich sah es nicht an. Ich wollte die Treppe wieder hinuntergehen – doch meine Füße trugen mich weiter, bis zu meiner alten Kammer. Und meine Hand streckte sich nach der Klinke. Meine Augen wollten das Bett noch einmal sehen, in dem ich zehn Jahre lang geschlafen hatte, und die Sammlung von Adlerfedern, die darüberhing.
    Ich trat auf Zehenspitzen ein. Und erstarrte. Auf meinem Bett lag der schwarze König.
    »Hallo, Lion«, sagte er, setzte sich auf und sah mich mit seinen rot geränderten Augen an. In seiner Hand lag der Ziegenstrick. »Ich habe auf dich gewartet.«
    Aber nein, nein. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mir nur eingebildet, dass der schwarze König sich aufgesetzt hatte. Er lag noch immer da, reglos, mit geschlossenen Augen. Ich sah, wie seine Brust sich hob und senkte, hob und senkte … Er schlief. Er schnarchte.
    Der Strick lag nicht in seiner Hand. Er lag neben dem Bett. In ein Ende hatte der schwarze König eine Schlinge gebunden, wie um jemanden zu fangen. Mir schoss ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht hatte mein Vater die Schlinge gebunden, als der schwarze König ihn kurz freigelassen hatte. Vielleicht hatte er mit der Schlinge den schwarzen König selbst fangen wollen.
    Und wer war es überhaupt, der da auf meinem Bett lag und schlief? Mein Vater oder der schwarze König? Ich trat ganz nahe heran und sah sein Gesicht an. Ich hatte den schwarzen König immer an seinen Augen erkannt, aber die Augen des Mannes auf dem Bett waren hinter flatternden Lidern verborgen. Er träumte.
    Und dann hörte ich ihn stöhnen. Das Stöhnen kam tief aus seinem Inneren, und es klang, als litte er unvorstellbare Qualen. Dann regte er sich, und ich erschrak. Doch er erwachte nicht. Er warf nur den Kopf herum. Schließlich lag er wiederstill, das Gesicht von mir weggedreht, zur Wand. Ich sah die Ader an seinem Hals pulsen.
    »Das Messer ist scharf«, sagte jemand hinter mir.
    Ich sah mich um. Vor dem Fenster war niemand zu sehen. Und es gab keine Spiegel im Raum. Ich fühlte das Gewicht des Messers in meiner Hand. Ich hatte es nicht in den Rucksack gesteckt, zu den übrigen Dingen.
    »Scharf genug, um einen Hasen abzuziehen«, sagte Olin, denn natürlich war es Olin. »Scharf genug, um ein Schwein zu schlachten.«
    Die Stimme kam aus meinem alten Kleiderschrank. Sah sie mich durch die Ritzen?
    »Du hast gesagt, du würdest nicht mitgehen!«, zischte ich leise. »Wieso bist du jetzt hier?«
    »Tu es«, flüsterte Olin. »Jetzt. Das ist deine Chance.«
    Ich trat einen Schritt zurück. Ich fragte sie nicht, was sie meinte. Ich wusste es nur zu gut. Sie wollte, dass ich den schwarzen König tötete. Dass ich ihm mit dem Messer meines Vaters die Kehle durchschnitt. Doch wenn ich den schwarzen König tötete, würde ich auch

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