Worte der weißen Königin
meinen Vater töten.
»Wo ist die Wut?«, flüsterte Olin. »Die Wut, die ich dir gegeben habe?«
Ich legte das Messer behutsam in den Rucksack zu den anderen Sachen. Meine Hand war jetzt leer.
»Ich muss sie verloren haben«, wisperte ich. »Die Wut. Irgendwo hier im Haus.«
Der Mann auf dem Bett schlief mit dem Gesicht eines Kindes.
Ich fragte mich, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. Ich fragte mich, ob er je wieder essen würde. Ich muss hierbleiben, dachte ich. Ich muss mich um ihn kümmern. Er ist mein Vater, trotz allem. Ich legte den Rucksack auf den Boden.
Da nahm mich jemand an der Hand und zog mich vom Bett fort. Es war Olin, sie war vollkommen lautlos aus dem Schrank gestiegen. Sie drückte mir den Rucksack in die freie Hand und führte mich zur Tür hinaus, ruhig, aber bestimmt.
Ich ließ mich führen.
Wir gingen einen anderen Weg zurück, den Weg über die Lichtung, auf der ich meinen Adler zuerst gesehen hatte. Rikikikri flog uns voraus.
»Das war vielleicht die einzige Chance«, sagte Olin, »den schwarzen König ein für alle Mal loszuwerden.«
»Nein«, erwiderte ich, »den schwarzen König werde ich nie los. Ich werde mich immer an ihn erinnern. Ich kann ihn nicht töten. Mein Va…«
»Oh, sei still«, sagte Olin. »Sei bloß still. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören.«
Rikikikri wartete auf der Lichtung beim Deich auf uns. Er saß auf etwas Großem, Dunklem. Es war ein totes Tier. Ein Reh.
Es erinnerte mich an die Ziege von damals.
»Komm, Rikikikri!«, sagte ich. »Vergiss dieses tote Reh. Es ist sicher keine gute Idee, es zu fressen.«
Und mein Adler stieg auf und folgte uns, doch ich sah sein Zögern. Er erinnerte sich nicht daran, was damals geschehenwar – wegen der Ziege. Auf dem Rückweg zu unserem Wald fragte ich mich, wer das Reh im Wald hatte liegen lassen. Konnte es sein, dass ein Reh einfach so von selbst starb? Dass es, gut sichtbar, mitten auf einer Lichtung in sich zusammenbrach? Etwas stimmte nicht mit diesem Reh. Ich war froh, als es hinter uns zurückblieb.
Am Rand unseres wilden Waldes stieg Olin durch den Zaun und melkte eine der Kühe, eine weiße Kuh mit einem hellbraunen Tupfen auf der Stirn. Und wir tranken frische, süße Milch aus der alten Saftflasche.
Wir fingen auch einen Fisch mit der Angel und zogen den Hasen ab, und wir kochten einen Sud aus Kräutern in dem Topf, wie Tee, und schließlich wickelten wir uns zusammen in die Decke und sahen zu den Sternen empor.
»Es lebt sich doch besser mit ein paar mehr Dingen«, sagte Olin. Und, nach einer Weile: »Danke.«
»Danke was?«, fragte ich verschlafen.
»Danke, dass du zurückgegangen bist«, sagte Olin, drehte sich zur Seite und schlief ein.
Doch ich lag lange wach und fragte mich, wieso sie nicht selbst ein paar Sachen aus dem Haus meines Vaters geholt hatte. Schon vor langer Zeit. So flink und lautlos, wie sie sich bewegen konnte, wäre es ein Leichtes gewesen, ein Messer mitgehen zu lassen – oder nicht? Meine tapfere, wütende Schwester konnte mit den Adlern vor dem Mond fliegen, aber ein Messer stehlen, das konnte sie nicht.
Am nächsten Tag flogen Rikikikri und Aarak zurück zur Lichtung beim Haus meines Vaters.
Ich wusste, dass sie dort hinwollten, als ich sie losfliegen sah. Ich wusste, was Rikikikri vorhatte. Er wollte Aarak das tote Reh zeigen. Selten gab es irgendwo so viel Fleisch auf einmal – das Reh war ein Festbüfett für die Seeadler. Ich wollte nicht noch einmal in diese Richtung gehen. Aber etwas an dem Reh war verkehrt, und ich sorgte mich um meinen Adler.
Der Weg durch den Himmel war so viel kürzer, und ich war so viel langsamer als die Adler, dass es mir schien, als würde ich sie nie einholen. Doch schließlich erreichte ich den Deich. Das Meer war blau an diesem Tag, blau mit weißen Schaumkronen. Drüben, vor der Küste der Insel, segelten die ersten Boote. Es war ein wunderbarer Tag, und ich sagte mir, nur ein Idiot machte sich an einem so wunderbaren Tag Sorgen wegen eines toten Rehs.
Ich verließ den Deich und schlich mich vom Wald aus an die Lichtung an, durch das Unterholz, wo die Luft nach Kiefernharz roch und nach dem Sommer schmeckte, der schon in den Ritzen des Aprils lauerte.
Dann sah ich die Adler auf dem Kadaver des Rehs sitzen; es waren fünf.
Und beinahe gleichzeitig sah ich den Schatten. Er bewegte sich durch die Bäume auf die Lichtung zu, nur ein paar Meter entfernt von mir. Zuerst dachte ich, es wäre Olin. Aber für Olin war der
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