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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Schatten zu groß.
    Er pirschte sich voran, Schritt für Schritt, genau so, wie iches eben noch getan hatte. Doch er war nicht gekommen, um die Adler zu beobachten. Über seiner Schulter hing ein Gewehr.
    Nur noch zwei oder drei Seeadlerspannweiten trennten uns, und da erkannte ich den Schatten. Es war der schwarze König.
    Es wunderte mich, dass er es fertigbrachte, sich so leise anzuschleichen. Sonst waren seine Bewegungen stets grob und fahrig gewesen. Vielleicht hatte er die Erinnerung meines Vaters gefunden: die Erinnerung, wie man sich im Wald an ein Tier anschleicht.
    Ich sah, wie er das Gewehr durchlud, und ich hörte ihn flüstern.
    »Dumm genug seid ihr, ja, dumm genug«, flüsterte er. »Auf eine so einfache Finte hereinzufallen! Scheißviecher. Kadaver fressen, das könnt ihr, Kadaver! Meinen Kadaver kriegt ihr nicht! Bis ich gehe, habe ich jeden Einzelnen von euch abgeschossen, jeden Einzelnen!«
    Er legte das Gewehr an und zielte, und ich dachte an jenen kalten Abend vor so langer Zeit. Alles geschieht zweimal, hatte die weiße Königin gesagt.
    »Ich hatte einen Sohn«, flüsterte der schwarze König. »Aber ihr habt ihn mir genommen. Denkt ihr, ich weiß nicht, dass ihr ihn geholt habt? Ich werde so viele von euch töten, wie ich kann, bis ihr mir den Jungen zurückgebt, immer einen nach dem anderen!«
    Ich merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte. Dabei war es gar nicht kalt. Es war ein außergewöhnlich warmer Frühlingstag.Die Worte des schwarzen Königs jagten mir gleichzeitig Angst ein und machten mich unendlich traurig.
    »Ich hatte einen Sohn«, sagte er noch einmal, und dann zerfetzte ein Knall die Luft. Ich sah die Adler auffliegen, alle fünf. Einer von ihnen strauchelte in der Luft.
    Alles geschieht zweimal …
    Es war Aarak, ich erkannte sie. Der schwarze König hatte ihren Flügel getroffen. Sie stieg ein Stück über den Wald auf – und stürzte hinab.
    »Na warte«, flüsterte der schwarze König. »Ich finde dich schon.«
    Alles geschieht zweimal. Jeder hat eine zweite Chance .
    Ich ballte die Fäuste und rannte los. Ich wusste, er würde meine Schritte hören, denn ich konnte nicht so lautlos laufen wie Olin. Er würde mir nachkommen. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste Aarak finden, ehe er sie fand, denn dann würde er sie töten. Ich lief wie ein Hase zwischen den Stämmen hindurch, schlug Haken und sprang über dichtes Brombeergestrüpp, ohne mich umzudrehen. Waren es meine eigenen Schritte oder die Schritte des schwarzen Königs, die ich hörte?
    Was würde er tun, wenn er mich einholte? Würde er sein Gewehr auf mich richten, weil er wusste, dass er mich ohnehin verloren hatte? Über mir hörte ich den Ruf meines Adlers, »rikikikriiiii!«, und ich hörte seine Angst – seine Angst um Aarak. Ich schob meine eigene Angst beiseite. Ich komme, Aarak, dachte ich, ich komme … Aber hätte ich sie nicht längst finden müssen? War ich an ihr vorbeigerannt? Wo warsie in den Wald hinabgestürzt? Verzweifelt blieb ich stehen und drehte mich im Kreis.
    Ich sah, dass der schwarze König zurückgeblieben war, doch er kam näher. Im selben Moment sah ich Aarak.
    Sie lag in einem Büschel Farn und versuchte, mit nur einem heilen Flügel wieder aufzufliegen. Ich spürte ihre Panik, und ich spürte, wie die Angst größer wurde, als ich auf sie zukam.
    Sie dachte, der schwarze König und ich gehörten zusammen. Sie hätte sich nicht mehr irren können. Als ich mich nach ihr bückte, wehrte sie sich nicht, sie hörte sogar auf, mit dem heilen Flügel zu schlagen. Sie war steif und leblos vor Todesangst.
    Ich schloss sie in meine Arme, hob sie auf – sie war schwer, schwer wie ein Kind – und floh mit ihr durch den Wald. Aber plötzlich waren meine Schritte leichter. Ich hatte es geschafft, Aarak zu finden, ich würde auch alles andere schaffen.
    Der schwarze König brach hinter uns durchs Geäst, weit hinter uns jetzt, doch er fand uns nicht mehr: mich nicht und keinen verwundeten Adler. Falls er wusste, dass ich es war. Ich glaube, er wusste es nicht.
    Er wusste nicht, wie nahe er dem verlorenen Sohn war, den die Adler ihm davongetragen hatten.
    Dabei war es umgekehrt: Ich war es, der ihm einen Adler davontrug.
    Ich trug Aarak bis zu unserem Wald. Ich trug sie bis an den Fuß der Esche.
    Dort setzte ich sie ab, und Rikikikri landete neben uns und rieb seinen braunfiedrigen Hals besorgt an ihrem. Ich fand ein Bündel frisch gepflückter Kräuter neben unserer Feuerstelle, obwohl

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