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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ich Olin nirgends entdecken konnte, und daraus machte ich einen Verband, der Aaraks Blut aufsog.
    »Morgen ist alles schon besser«, sagte ich zu ihr. »Die Kräuter lassen die Wunde heilen, du wirst schon sehen.«
    Da legte Aarak ihren Kopf in meine Hand, erschöpft. Aber in ihren gelben Augen stand keine Angst mehr. Sie hatte endlich begriffen, wer ich war.
    Ich war Lion, der Junge, der zu wenig Löwe in sich hatte und zu viel Seeadler.
    Rikikikri legte seinen Kopf in meine andere Hand. Und so saßen wir lange, lange, lange. Und ich beschloss, meine Reise nach Berlin noch ein wenig zu verschieben. Ich sehnte mich nicht weniger nach der weißen Königin als zuvor. Danach, mich auf ihre Bettkante zu setzen und einfach nur bei ihr zu sein. Ich brauchte sie.
    Aber mein Adler brauchte mich hier, und es tat so gut, gebraucht zu werden. Da verbannte ich mein Sehnen in den hintersten Winkel meines Herzens und verschloss es gut dort, bis ich Zeit dafür hatte. Ich würde Aarak pflegen, solange es nötig war.

8. Kapitel
    Nichts oder alles
    U nd dann drängte das Leben mit aller Macht in den Wald. Die Knospen der Bäume brachen auf und entfalteten saftig grüne Blätter, ein wippender weißer Teppich aus Maiglöckchen bedeckte den Boden, und die Bienen summten im Efeu an den alten dicken Baumstämmen. Die Fische sprangen nach Mücken. In Wehrland blühten die Obstbäume.
    Und wir froren nachts nicht mehr.
    Olin tauchte auf und verschwand wieder wie eine streunende Katze, wie ein wildes Tier. Man konnte nie wissen, wo man auf sie stieß. Aber immer, wenn ich mich um Aaraks Wunde kümmerte, fand ich frische Kräuter neben der Feuerstelle. Es dauerte, bis Aarak wieder fliegen konnte. Rikikikri versorgte die Jungen im Horst allein, und ich dachte, dass es ihm jetzt so ging wie meinem Vater. Aber dann dachte ich, dass es ihm überhaupt nicht so ging, denn schließlich war die Mutter seiner Kinder noch da, sie war nicht fortgegangen.
    Ein einziges Mal sprach ich mit Olin über unsere Mutter. Wir saßen auf dem Hochsitz in der Eiche, am Wasser, und tranken Milch, die uns die Kühe geschenkt hatten.
    »Kannst du dich an sie erinnern?«, fragte ich.
    Sie wusste, wen ich meinte. »Was soll man mit Erinnerungen an jemanden«, fragte sie, »der einen verlassen hat? Solche Erinnerungen tun nur weh.«
    »Das macht nichts«, sagte ich und dachte an den Kompost. »Solange man Erinnerungen hat.«
    Olin lachte. »Kleiner Bruder«, sagte sie, »du erinnerst dich zu gut. Du erinnerst dich an alle Worte, die du hörst. Was willst du wissen über unsere Mutter?«
    »Oh, alles«, sagte ich. »Wie roch sie? Was für Kleider hatte sie an? Hat sie den Wald gemocht? Ist sie manchmal stehen geblieben, um die Adler zu beobachten? Hat sie gesagt, dass sie uns vermissen wird?«
    Olin schüttelte den Kopf. »Ich bin nur ein Jahr älter als du«, antwortete sie. »Alles, was ich weiß, ist, dass sie in den Westen gegangen ist, wo es mehr Arbeit und mehr Geld und mehr Autos gibt.« Aber das wusste ich schließlich selbst.
    »Wenn alle in den Westen gehen«, sagte ich, »warum bist du nicht dorthin gegangen?«
    »Man sagt, sie hätten eine Menge Städte da, aber wenig Wälder«, meinte Olin. »Und eine Menge Straßen und Geschäfte. Aber keine ungemähten Wiesen. Und man muss wohl in einer kleinen Wohnung in einem Hochhaus wohnen, im Westen. Denn die Häuser auf dem Land sind für die reichen Leute.«
    »Seltsam«, sagte ich. »Bei uns wohnen die armen Leute auf dem Land und die reichen Leute in der Stadt … Ist im Westen alles genau umgekehrt? Vielleicht gehen sie dort auf den Händen und strecken die Füße in die Luft?«
    Wir mussten kichern, als wir uns das vorstellten.
    »Ja, und wenn sie traurig sind, lachen sie«, sagte Olin. »Und wenn sie wach sind, gehen sie in die dunkle Nacht hinaus. Und wenn ihre Familie auf sie wartet, kommen sie nicht zurück. So wie unsere Mutter.«
    Ich sah über das Schilf, über das Wasser, bis nach Usedom hinüber, wo ein Schwarm Kormorane über den hohen Himmel flog. In der Astgabel der Eiche lag eine einzelne große Seeadlerfeder, so lang wie mein Unterarm. Ich steckte sie ein.
    »Olin«, sagte ich, »ich werde trotzdem weggehen, weißt du. Nicht in den Westen, aber nach Berlin.«
    »Ich weiß«, sagte Olin. »Du willst die weiße Königin suchen.«
    »Woher weißt du das?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Geh, wann immer du willst«, sagte sie.
    »Bald«, sagte ich. »Sobald Aaraks Flügel ganz geheilt ist.«
    Wenn

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