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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ich aus Berlin zurückkam, dachte ich, eines Tages, würde ich die weiße Königin mitbringen. Und ich würde ihr unser großes grünes Wohnzimmer zeigen, dessen Dach aus Blättern bestand und dessen Wände aus Sonnenlicht waren.
    Ich lernte und lernte und lernte für meine Reise. Der Mai kam, die Waschbären und Füchse hatten Junge und die Erdbeeren wurden reif. Olin kannte jeden Hintergarten, in dem man sie pflücken konnte. Sie wusste auch, wo man den ersten grünen Spargel stechen konnte, und wir lebten wie die Könige. An Regentagen verkroch ich mich im dichten Gebüsch und spannte meine Decke als Zelt über mir auf und lauschteder Musik der Tropfen. Wenn die Sonne schien, watete ich durchs Schilf ins flache Wasser und schwamm hinaus zu den Schwänen und Enten. Wenn Olin mit mir hinausschwamm, spritzten wir uns gegenseitig nass, bis wir blaue Lippen hatten und mit den Zähnen klapperten. Denn die Ostsee ist nicht warm im Mai, selbst das Achterwasser nicht. Aber wir mussten doch den Dreck irgendwie loswerden. Wir wuschen auch unsere Kleider im kalten Wasser und hängten sie zum Trocknen in die Bäume. Und weil wir jeder nur eine Garnitur Kleider besaßen, rannten wir nackt durch den Wald, während unsere Sachen trockneten: zwei verrückte, kichernde, frierende Kobolde.
    Wenn ich jetzt irgendwo auf fremde Seeadler stieß, flogen sie nicht mehr auf. Denn sie waren nicht mehr fremd. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass ich ein Teil ihres Waldes war, ein Teil ihrer Küste und ihrer Wiesen und ihrer Felder. Sie ließen sich nicht anfassen, so wie Rikikikri und Aarak, sie beäugten meinen zweibeinigen Gang aus der Ferne voll Verwunderung, und ich konnte mir vorstellen, wie sie zueinander sagten: Himmel, er kann es immer noch nicht! Wann lernt er es nur?
    Wenn Aarak voller Sehnsucht in den Himmel blickte, wo Rikikikri auf dem Wind schwebte, dann sah ich mit ihr dort hinauf, genauso sehnsuchtsvoll.
    Als die jungen Adler flügge wurden und den Horst verließen, wuchs unsere Sehnsucht bis ins Unermessliche. Wir beobachteten stundenlang, wie sie in den Aufwinden ihre Schwingen erprobten.
    Und eines Tages Ende Mai oder Anfang Juni breitete Aarakihre Flügel aus und erhob sich wieder in die Luft. Ich war dabei, als sie es tat, und ich wollte mich für sie freuen, doch in mir kochte die Verzweiflung hoch. Sie lief über den Rand wie Kartoffelwasser, und ich wischte sie mir schnell aus den Augen, falls Olin irgendwo in der Nähe in den Schatten saß und mich beobachtete. Ich sah zu, wie Aarak höher und höher stieg, wie Rikikikri sie dort oben begrüßte.
    »Rikikikriii!«, schrie mein Adler über mir, und jetzt waren Aarak und er nicht mehr zu zweit, jetzt schwebten fünf Adler dort, zwei alte und drei junge. Eine Familie in Schwerelosigkeit. Und ich hatte nichts, keine Familie und keinen Anteil an der Schwerelosigkeit.
    Ich spürte die Wut in mir, doch ich wollte nicht auf meinen Adler wütend sein.
    Ich ballte die Fäuste und rannte vor der Wut weg, rannte quer durch den Wald, ich rannte und rannte, wie damals, als ich vor dem schwarzen König geflohen war. Damals war ich vor der Grausamkeit geflohen, vor dem Dunklen und Schrecklichen. Jetzt floh ich vor dem Hellen und Schönen. Ich sah die Bäume durch einen Schleier von Tränen, die ich nicht weinen wollte. Ich wollte so lange weiterrennen, bis ich ganz leer war, bis keine Wut mehr in mir war und keine Trauer und gar nichts mehr.
    Irgendwo hinter mir hörte ich meinen Adler rufen, doch ich wusste: Er rief nicht mich. Er rief Aarak und seine Jungen. Und seine Rufe wurden leiser.
    Niemand rennt ewig. Irgendwann ging ich nur noch langsam weiter, und ich kam zu einem Stück Wald, das ich noch niebetreten hatte. Das Land stieg an, die Küste wurde steiler und steiler, und ich wanderte oben an ihrem Rand entlang. Die Bäume neigten ihre Äste, als wollten sie hinunter ins Wasser sehen; sie rauschten mit ihren Blättern und warfen kleine Äste nach mir – und da blieb ich schließlich stehen.
    Der Wind hatte zugenommen. Weiße Wellenkämme jagten über das Meer, und das Meer war schwarz. Auch der Himmel hatte sich verdunkelt. Es würde einen Sturm geben, bald.
    Ich zog mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf und machte den Reißverschluss zu.
    In diesem Moment fiel mir auf, dass ich frei war. Ich konnte nach Berlin gehen. Aarak brauchte mich nicht mehr. Ich war so enttäuscht gewesen, nicht mit ihr fliegen zu können, dass ich das ganz vergessen hatte.
    Die weiße

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