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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Königin würde nicht mehr lange auf mich warten müssen …
    Und in dem Moment, in dem dieses wunderbare Wissen in mein Herz sank, sah ich das Haus. Es stand ganz vorn an der Steilküste. Weiße Kalkklippen fielen dort jäh ins Meer ab.
    Zwischen dem Rand der Klippen und dem Haus lag ein Garten, ein bunter, fröhlicher Garten voller Obstbäume. Ein Zaun und eine dichte Hecke aus Jasmin schützten ihn vor dem Wind, der vom Wasser her kam. Und vielleicht schützten sie auch die Besitzer des Gartens davor, aus Versehen die Klippen hinunterzufallen. An einer Stelle gab es nur den Zaun, keine Büsche. Dahinter entdeckte ich eine breite Holzbank, auf der man sitzen und das Meer ansehen konnte, und die Insel gegenüber.
    Auf der anderen Seite des Hauses, der Nichtmeerseite, gab es eine Auffahrt. Von dort aus führte ein breiter Weg in den Wald, der vermutlich irgendwo auf eine Straße stieß.
    Auf der Auffahrt stand kein Auto.
    Ich beschloss, dass dies das Letzte wäre, das ich vor meiner Reise täte: mir das Haus anzusehen. Dann könnte ich der weißen Königin davon erzählen, dachte ich, und wir könnten zusammen davon träumen, dort im Garten zu sitzen und aufs Meer hinauszusehen.
    So wanderte ich weiter, bis zu dem niedrigen Zaun, und dann kletterte ich darüber. Ich lauschte. Es war ganz still.
    Ich ging zu dem Haus hinüber und legte meine Hand auf seine Wand. Die Wand bestand aus rotem Backstein: sonnenwarm wie die Lehmmauern zu Hause. Doch dieses Haus war ganz anders als unseres. Man sah sofort, dass die Leute, die darin wohnten, Geld hatten – das Geld quoll aus allen Ritzen, und zwar auf eine so unaufdringliche Art, dass es schon wieder aufdringlich war.
    Alles an diesem Haus war schön: das Fachwerk zwischen den roten Backsteinen, die altmodischen hölzernen Fensterkreuze, die Kletterrosen an der Wand. Es gab zwei Stockwerke; das Haus war wie ein Turm.
    Ein Aussichtsturm.
    Von den Fenstern ganz oben musste man einen unglaublichen Ausblick haben. Das Haus hockte hier oben auf seinen Klippen wie ein Adler in seinem Nest, mitten im Wind, mitten in der Schwerelosigkeit. Und die Wand im Erdgeschoss, die Wand, die zum Meer hinsah, bestand ganz aus Glas. Wennman dort saß, dachte ich, musste es sein, als schwebte man selbst.
    Ich liebte und hasste das Haus gleichzeitig. Und dann merkte ich, dass das nicht stimmte. Ich liebte es nur. Ich hasste die Tatsache, dass es jemand anders gehörte.
    Ich setzte mich auf die Bank – genau dorthin, dachte ich, würde ich mich mit der weißen Königin zusammen träumen. Auf der Bank lag auf einem vergessenen Federballschläger ein vergessenes Mäppchen voller Stifte. Ein paar Stifte waren offen. Wie konnte jemand so achtlos mit seinen Stiften umgehen? Wenn ich Stifte besessen hätte, hätte ich aufgepasst, dass sie nicht austrockneten.
    Unter der Bank fand ich noch etwas: ein Buch. Ich schlug es auf und sah, dass jemand die Bilder ausgemalt hatte. Ziemlich krakelig. Wie ein kleines Kind. Wie konnte man einem kleinen Kind erlauben, die Bilder in einem Buch auszumalen! In dem Buch lag die gefaltete Anleitung für ein ferngesteuertes Flugzeug. Es gab also auch jemanden hier, der älter war. Vielleicht so alt wie ich.
    Noch jemanden, dachte ich bitter, der alles hatte: ein Haus und Bücher und ein ferngesteuertes Flugzeug. Jemand, der garantiert noch nie dem schwarzen König begegnet war. Jemand, der abends in seinem Bett ruhig einschlief und nicht wusste, dass ein Ziegenstrick eine Waffe und ein Keller ein Gefängnis war. Ja, jemand, der alles hatte, und ich, dachte ich wieder, hatte nichts.
    »Oder alles«, hörte ich die weiße Königin sagen. In diesem Moment sah ich die Adler.
    Sie schwebten draußen über den Klippen, vor dem hellen Himmel, und es waren viele. Ich zählte. Zwölf. Das mussten alle Adler sein, die ich an der Küste bisher gesehen hatte, Rikikikri und seine Familie und alle anderen. Von hier aus, von diesem Haus aus, konnte man sie beim Fischen beobachten.
    »Riiii!«, hörte ich meinen Adler rufen, »rikikikriii!«
    »Oh, mein Rikikikri!«, rief ich, obwohl er mich nicht hören konnte da oben. »Wäre es nicht wunderbar, wenn dieses Haus mein Haus wäre? Wenn ich hier wohnen könnte? Am besten zusammen mit der weißen Königin. Wir könnten euch von hier aus beim Fischen zusehen, draußen auf dem Meer, und wenn es regnen würde, könnten wir hinter der Glaswand sitzen und sie würde mir vorlesen … Ich würde natürlich etwas an die Scheibe kleben, damit

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