Worte der weißen Königin
gegen den Wind an, der jetzt ein Sturm wurde. »Bist du irgendwo hier? Sag mir, wo ich hintreten muss! Hilf mir! Hiiilf – miiiir!«
Die einzige Antwort, die ich bekam, war die Antwort des Sturms. Er zog an meinen Kleidern und versuchte, mich aus der Klippe zu pflücken. Ich machte den Fehler, doch noch den Kopf zu drehen, und da lag der Strand weit, weit unter mir. Es war ein schmaler Strand, voller spitzer Steine: hart und tödlich. Und mit einem Schlag wurde mir bewusst, wie wahnsinnig es war, was ich tat. Wie unglaublich gefährlich. Hinter dem Strand toste das Meer, ja, jetzt toste es, es warf seine Wellen mit aller Gewalt ans Ufer, als wollte es eine passendeBegleitmusik spielen zu meiner waghalsigen Kletterei. In mir aber toste die Angst, sie schwappte durch meinen Körper und schüttelte mich, und ich krallte mich in der Steilwand fest wie eine Fliege.
Und dann fanden meine Füße keine Vorsprünge mehr.
Ich kletterte weiter nach rechts, wo es möglicherweise einen Weg nach unten gab. Alles war besser, als von den Leuten dort oben eingefangen und zum schwarzen König zurückgebracht zu werden.
Da waren plötzlich die Adler wieder da. Sie flogen mir entgegen, und sie schrien, heiser und rau: »Raaak, rak, rak, kiiii! Karriiiii!«
»Helft mir!«, rief ich. »Zeigt mir, wie ich fliegen kann! Denn ich muss fliegen, sonst werde ich fallen, und …!«
Die Adler halfen mir nicht. Sie taten etwas, das ich nicht erwartet hatte. Sie griffen mich an. Sie flogen mit ausgestreckten Krallen auf mich zu. Ich zog den Kopf ein und entkam den Klauen des ersten Adlers nur knapp. Der erste Adler war Rikikikri. Rikikikri hatte mich angegriffen.
Und er tat es noch einmal.
Wieder und wieder schoss er aus der Luft auf mich zu, und mir blieb nichts anderes übrig, als in die andere Richtung zu klettern, nach links. Weiter und weiter nach links kletterte ich, ohne einen Weg abwärts zu finden. Warum wandten die Seeadler sich gegen mich?
Am liebsten hätte ich einfach die Augen geschlossen und mich fallen gelassen. Wenn meine einzigen Freunde sich gegen mich wandten, war es dann nicht egal, ob ich fiel?
Schließlich hörten die Angriffe der Adler auf.
Ich sah wieder nach unten. Jetzt war kein felsiger Strand mehr unter mir. Unter mir war Wasser.
»Riii!«, rief mein Adler, irgendwo hinter mir. »Rikikikriiiii!«
Da endlich verstand ich. Die Adler hatten mich nicht auf ihren Flügeln mitnehmen können, in Sicherheit. Sie hatten mich nur von dort vertreiben können, wo ich unweigerlich auf den Steinen zerschellt wäre. Sie hatten mich in Sicherheit gejagt, mich in Sicherheit geschrien, mich in Sicherheit gescheucht.
Es begann zu regnen, und der Regen wusch die Kreide aus dem Gestein, machte es glitschig, nahm mir die Sicht. Da war nichts mehr.
Oder alles.
Da waren meine Angst und das Brausen des Sturms, da war der Atem des Wassers unter mir, da waren die Stimmen der Adler und die Erschöpfung in meinen Armen.
»Riiii!«, rief mein Adler. »Flieeeeg!«
Und ich flog. Ich ließ los. Es gab keine andere Möglichkeit.
Ich stieß mich vom Felsen ab, wie Olin sich vom Wipfel der Kiefer abgestoßen hatte, und breitete meine Arme aus. Natürlich nützte das nichts. Natürlich flog ich nicht wirklich. Ich fiel, schwer wie ein Stein.
Die Wasseroberfläche traf mich mit Wucht; es war wie ein Schlag mit tausend Stricken zugleich.
Sekunden später tauchte ich auf.
Ich sah an der Steilwand empor; sah, wie hoch sie war. Nein,ich hätte es nicht überlebt, aus dieser Wand auf den Strand zu fallen. Und was für ein Glück war es, dachte ich, dass das Wasser hier nicht so flach war wie sonst am Ufer! Denn sonst hätte ich mir auf dem Grund das Genick gebrochen.
Die Adler hatten mich zur einzig richtigen Stelle gelotst.
Aber noch war ich nicht an Land.
Der Sturm war inzwischen zu einem Unwetter herangewachsen. Der Regen peitschte das Achterwasser und die Wellen warfen mich hin und her wie ein Stück Treibholz. Ich versuchte, am Ufer entlangzuschwimmen, zu dem schmalen Strand. Jetzt brauchte ich ihn, den dummen Strand, um an Land zu klettern.
Doch die Wellen rissen mich zurück, rissen mich mit sich hinaus, vom Ufer fort, tauchten mich unter wie mit starken, unbarmherzigen Armen und hielten mich unter Wasser. Das sind die Arme des schwarzen Königs, dachte ich. Er hat sich eine neue Art ausgedacht, mich dafür zu bestrafen, dass ich weggelaufen bin. Er hält mich so lange unter Wasser, bis ich aufgebe und das Wasser in meine
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