Worte der weißen Königin
keiner von euch dagegenfliegt, weil er das Glas nicht sieht.«
Es war nur ein dummer Traum, aber er war so schön – so schön!
Und dann hörte ich hinter mir das Geräusch eines Autos.
Ich sprang auf, und das Buch rutschte von meinem Schoß. Als ich es auf die Bank legte, klappte es auf einer Seite auf, auf der es kein ausgemaltes Bild gab. Dafür gab es Worte dort, Worte, die mir entgegenleuchteten wie ein geheimes Feuer.
Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall , las ich. Doch die Zeit ging dahin, und nach und nach genügten Malin die Worte allein nicht mehr, sie wurden zu einem Sehnen, das sie Tag und Nacht begleitete …
So lange hatte ich diese Worte gesucht, und hier waren sie!Als hätte die weiße Königin sie für mich hier hinterlassen. Nur für mich.
Ich wusste, dass ich fortlaufen musste, jetzt gleich. Aber stattdessen las ich die Worte im Stehen, eilig, wie jemand, der halb verhungert ist und Essen in sich hineinstopft: Ich las von Malin, die im Armenhaus lebte und eine Erbse einpflanzte, damit eine Linde daraus wuchs. Mit Glauben und Sehnen, sagte sie, würde es gelingen. Und ich las weiter, davon, wie die Linde wirklich wuchs, aber nicht klang. Schön und stumm stand sie auf dem Kartoffelacker und war tot. Doch die Linde blieb nicht tot, denn Malin schenkte dem Baum eines Nachts ihre Seele, damit er klang, und am nächsten Tag saß eine Nachtigall in den Zweigen und sang. Und Jocke Kis, der nicht ganz richtig war im Kopf, sagte, dass er, als die Linde klang, nur eine einzige Stimme gehört habe. Und die flüsterte: Ich bin es, Malin.
»Hallo«, sagte jemand direkt vor mir.
Ich blickte auf. Es war der Junge aus der Kirche, der mit dem zerzausten blonden Haar. Diesmal hatte er keine MP3-Player-Stöpsel in den Ohren; er trug einen Rucksack, aus dem ein Badehandtuch heraushing. Das Geräusch des Autos, dachte ich jetzt, war das Geräusch eines Landrovers gewesen.
»Hallo«, sagte der Junge noch einmal.
Ich sagte nicht »Hallo«. Ich wusste, dass ich keine Zeit für viele Worte hatte, und Hallo wäre eines zu viel gewesen. Ich sah dem Jungen fest in die Augen und fragte: »Ist sie hier? Nicht in Berlin? Hast du gelogen?«
»Wie bitte?«, sagte er.
Irgendwo beim Haus bellten Hunde.
»Die weiße Königin«, sagte ich und packte den Jungen an den Schultern, damit er begriff, wie wichtig meine Frage war. »Ist sie hier?«
Er riss sich los und trat einen Schritt zurück. Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Wovon redest du?«
Sein Blick war wie der von Aarak, als ich sie aufgehoben hatte. Angst stand in seinen Augen. Er drehte sich um und pfiff, und da kamen zwei Hunde auf uns zugerast, vom Haus her, ein kleiner, braun-weiß gescheckter Jagdhund und ein riesiger schwarzer.
Gleichzeitig kam eine Frau um die Hausecke, vielleicht die Mutter des Jungen. Sie trug eine schwere Tasche. Sie rief nach den Hunden. Noch hatte sie mich nicht gesehen.
Die weiße Königin kam nicht um die Ecke.
Die weiße Königin war nicht in der Nähe. Der Junge hatte die Wahrheit gesagt. Denn sonst wäre sie in diesem Moment von irgendwo aufgetaucht und hätte irgendetwas zu irgendwem gesagt: die richtigen Worte.
Ich ließ das Buch fallen und rannte endlich – rannte über die Wiese, sprang über den Zaun und war mit ein paar Schritten dort, wo die Klippen steil abfielen. Ich hörte die Hunde hinter mir. Ich hatte keine Zeit zu überlegen. Ich hatte nichts.
Oder alles.
Ich hatte meine Hände und meine Füße und meine Erfahrung darin, auf Bäume zu klettern. Ich hatte all die Handgriffe, die Olin mir beigebracht hatte.
Ich kletterte über die Kante, ohne hinunterzusehen. Es gab Wurzeln dort und Grasbüschel, junge Bäume, die aus den Ritzen im Felsen wuchsen und die mir Halt boten. Meine Füße fanden die richtigen Tritte wie von selbst. Die Hunde bellten über mir. Schließlich wurden sie zurückgepfiffen. Ich erwartete, dass jemand nachsehen würde, wo ich geblieben war. Doch niemand kam.
Ich kletterte weiter, die Wurzeln und Bäume wurden weniger, und schließlich konnte ich nur noch die Vorsprünge im Felsen benutzen. Über Felsen ohne Wurzeln zu klettern, hatte Olin mir nicht gezeigt.
Auf dem Hof der Förderschule hatte es eine Kletterwand gegeben. Aber die Älteren hatten die unteren Griffe als Aschenbecher benützt und die oberen nach und nach mit ihren Messern abgesäbelt, nur so zum Spaß, und deshalb hatte ich keine Übung darin, eine Kletterwand hinunterzuklettern.
»Olin!«, rief ich
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