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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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drehte sich der Jemand unter Wasser um und winkte mir, ich solle ihm folgen. Ihr. Es war Olin. Ich sah ihr offenes Haar um ihr Gesicht schwimmen wie Seegras, es war lang geworden in diesem Sommer – und ich sah sie grinsen. Dann wandte sie sich ab und schwamm weiter, schwamm voraus. Ich kam hoch, holte tief Luft und tauchte wieder unter. Olin war ein Stück tiefer getaucht, und so tauchte auch ich tiefer – und hier unten war das Wasser ruhiger. Natürlich, der Wind peitschte die Wellen nur an der Oberfläche auf. Hier kam ich voran. Ich musste nur lange und weit genug tauchen. Und das Wissen, dass Olin vor mir schwamm, gab mir Kraft.
    Wir tauchen unter der Rache des schwarzen Königs hindurch, dachte ich, und beinahe musste ich lachen über diesen Gedanken. Es war sehr still um uns.
    Die Luft in meinen Lungen wurde knapp; ich musste mich mit aller Gewalt zwingen, nicht aufzutauchen. Die Kraft wichaus meinen Armen, und ich begriff nicht, wie Olin es schaffte, so lange unter Wasser zu bleiben. Gehörte auch das zu den Dingen, die man lernte, wenn man jahrelang im Wald lebte? Ich schaffte es nicht. Ich tauchte auf, um zu atmen.
    Als ich wieder untertauchte, war Olin nirgends mehr zu sehen. Da war nur noch das Wasser. Doch jetzt machte es nichts mehr, jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich brauchte vier oder fünf Anläufe. Mit dem fünften Mal Tauchen erreichte ich das zweite Netz, und ich kam hoch und fand meinen Adler vollkommen erschöpft dort. Er schlug nur noch schwach mit den Flügeln. Die Maschen des Netzes hatten sich um seine Federn gewickelt wie Fesseln.
    Ich löste das Jagdmesser meines Vaters, das ich am Gürtel trug. Meine Finger waren kalt und klamm, auch ich sah vor Erschöpfung rote Schlieren im Regen, doch ich arbeitete wie ein Besessener an dem Netz. Rikikikri hielt nicht still, seine Panik war größer als sein Vertrauen zu mir, und ich hatte Angst, ich würde ihn mit dem Messer verletzen, statt ihn zu befreien. Einmal rutschte ich ab und schnitt mir selbst in die Hand, und mein Blut vermischte sich mit dem Achterwasser und wurde ein Teil der Wellen.
    Schließlich durchtrennte ich die letzte Masche des Netzes. Rikikikri war frei. Er schlug jetzt kraftvoller mit den Flügeln, ließ die Gischt hoch aufspritzen, erhob sich über das Wasser und breitete seine Schwingen zu ihrer vollen Spannweite von mehr als zwei Metern aus.
    »Riiii!«, rief er heiser. »Rikikikriii!«
    Und dann flog er durch den Regen in Richtung Ufer. Ichsah ihm nach, bis er im Grau des Regensturmhimmels verschwand.
    Eine Weile suchte ich die Wellen nach Olin ab. Unnötig zu sagen, dass ich sie nicht fand.
    Als ich genug Kraft gesammelt hatte, kletterte ich an dem Netz entlang zur Küste. Der Regen hatte aufgehört, als ich dort ankam, und das Abendsonnenlicht quoll hinter den Wolken hervor. Ich erreichte das Land ein gutes Stück von den Kreideklippen entfernt, und so begann ich zurückzuwandern. Meine Beine drohten unter mir wegzuknicken, doch ich befahl ihnen weiterzugehen. Sicher hätte ich irgendwo schlafen können, wenn die Nacht kam. Aber ich wollte nicht irgendwo schlafen. Ich sehnte mich nach meinem Schlafplatz unter der Esche, in der der Adlerhorst über mir thronte. Ein letztes Mal würde ich darin schlafen, ehe ich nach Berlin aufbrach.
    Als ich an dem Haus auf den Klippen vorbeiging, auf der Landseite diesmal, im Wald, war es schon dämmrig. In den Fenstern schien ein helles warmes Licht. Sicher saß der Junge dort jetzt im Wohnzimmer und las ein Buch. Aber wenn er von den Seiten aufblickte, sah er durch die Glaswand das Wasser und den Abendhimmel, wo vielleicht ein Seeadler schwebte, ganz nah. Die Wut regte sich wieder in mir.
    Das Haus auf den Klippen war mein Haus. Wenn es irgendeine Art von Gerechtigkeit gegeben hätte auf der Welt, hätte es mir gehört. Und in diesem Moment, da ich in nassen Kleidern zitternd im Abendwind stand und das Haus ansah, fasste ich einen Entschluss: Eines Tages würde es mein Haus sein.
    Dieser Entschluss ließ mich meine Müdigkeit vergessenund brachte mich zurück zu unserem Wald. Doch wie sah er aus, unser Wald! Der Sturm hatte Äste abgerissen und ganze Bäume geknickt, kreuz und quer lagen die Stämme von Kiefern und Buchen, als hätte ein Riese zwischen ihnen gewütet. Ich sah ein paar verschreckte Eichhörnchen einen Stamm entlanglaufen, der nicht mehr in die Höhe führte. Die Esche!, dachte ich, und die Angst griff wieder nach mir. Stand die Esche mit dem Adlerhorst noch?

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