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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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schweigend durch den Wald, vorbei an der alten Sandgrube, bis zu dem einzigen größeren Weg in der Nähe. Sie schwieg auch, nur ab und zu flüsterte sie ihrem Teddy etwas ins Ohr, ihrem schönen großen Teddy, den ihre Eltern für sie gekauft hatten.
    Sie würde von ihrem Ausflug zurückkehren und die Seeadler über den Klippen fliegen sehen und das Meer riechen und den Wind schmecken. Und auf der Bank im Garten sitzen und zur Insel Usedom hinüberschauen und ein Buch voller schöner Worte lesen.
    Bald.
    »Wenn du zu Hause bist«, flüsterte ich, als wir auf den Weg hinaustraten, »und du einen Seeadler siehst, der so ruft: Aarak! Aarak! Dann grüße ihn von mir. Tust du das?«
    Malin nickte.
    »Und jetzt geh den Weg entlang«, sagte ich. »Nach da. Da kommt irgendwann ein Dorf. Wenn es nicht das Dorf ist, wo der wohnt, den ihr besucht, dann kann irgendjemand deine Eltern anrufen oder was weiß ich.«
    Malin nickte wieder. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzenund umarmte mich, und ich wollte nicht, dass sie mich umarmte, weil ich sie hassen musste. Ich blickte ihr nicht nach, ich wollte ihr kornblumenblaues Kleid nicht mehr sehen. Ich rannte in eins durch zurück zum Sandhof und warf mich zwischen den Obstbäumen ins Gras und verbarg den Kopf in den Armen, ohne zu weinen.
    Als ich aufsah, saß Olin vor mir im Gras.
    »Du hättest sie töten können«, sagte sie. »Das Messer steckt in deiner Tasche.«
    »Du bist verrückt«, sagte ich. »Total übergeschnappt.«
    »Hast du ihr gesagt, dass sie niemandem von dir erzählen darf?«
    »Nein«, sagte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die ich nicht geweint hatte. »Was hätte es genützt? Sie hätte Ja gesagt und es ihnen trotzdem erzählt.«
    »Das wird sie«, sagte Olin. »Sie wird es ihnen erzählen. Wir müssen fort von hier. Die guten Tage auf dem Sandhof sind zu Ende. Willst du immer noch nach Berlin? Zu deiner komischen Königin?«
    Ich nickte. »Ja«, sagte ich. »Sie wartet doch auf mich. Morgen, gleich morgen gehen wir. Ich werde nur mit einem Auge schlafen heute Nacht, wie die Hasen.«
    Olin seufzte. »Bitte«, sagte sie, »das kannst du ja so gut.«
    Natürlich schlief ich mit beiden Augen, aber ich schlief unruhig.
    Durch meine Träume tanzte ein kleines Mädchen in einemkornblumenblauen Kleid, doch sie hielt keinen Teddybären in den Armen, sondern ein Knäuel aus allen alten Stricken, die ich im Fischteich versenkt hatte.
    Das Mädchen tanzte mitten in der Luft, und um sie herum flogen die Seeadler, aber sie hatten die Köpfe von Menschen: Da war der Junge mit dem MP3-Player und sein Vater und seine Mutter, die ich nur einmal kurz in der Kirche gesehen hatte; da waren die weiße Königin und Olin und die Polizisten, die unter dem Adlerhorst gestanden hatten. Alle, alle konnten fliegen, nur ich nicht. Ich stand am Boden und verrenkte mir den Kopf, um zu ihnen emporzusehen, denn meine Füße waren wieder in der Erde festgewachsen.
    Ich erwachte verschwitzt und ängstlich aus meinen Träumen und lief zu einem der Fenster, um hinauszusehen. Doch draußen hatte sich nichts verändert. Das Korn wogte auf den Feldern in der Morgendämmerung, es war gelb und beinahe reif. Der Herbst kam näher.
    Als es hell wurde, sah ich jemanden beim Fischteich, und ich dachte im allerersten Moment, es wäre Olin. Doch es war ein Mann mit einem Fahrrad und einer Angel. Ich sah zu, wie er die Angel auf seinen Gepäckträger klemmte, und vermutlich hatte er ein paar Fische in seinem Rucksack, als er davonfuhr. Einmal hatte er in meine Richtung gesehen, aber er hatte nichts gesagt. Wahrscheinlich hatte er mich nicht entdeckt.
    An diesem Morgen las ich auch zum ersten Mal das Schild am Fischteich. Es war natürlich die ganze Zeit über da gewesen, halb zugewachsen zwischen Gras und Büschen.
    PRIVATGRUNDSTÜCK stand auf dem Schild. ANGELN VERBOTEN.
    »Rikikikri«, sagte ich, »ich fürchte, die Fische, die wir essen, gehören dem Mann dort. Ich fürchte, das ist der Grund dafür, dass es so viele sind. Er züchtet sie.«
    »Riii«, sagte mein Adler und putzte seine Flügel. »Rikrrri.«
    Da hatte er auch wieder recht. Was machte es für einen Unterschied, wem die Fische gehörten? Fische gehörten vor allem sich selbst. Und Rikikikri konnte keine Schilder lesen.
    »Ich auch nicht«, sagte Olin neben mir. »Die Worte auf den Schildern sind zu nichts gut. Worte stehlen die Freiheit.«
    »Nein!«, rief ich, »das ist nicht wahr! Worte können auch Freiheit machen!

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