Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
davon ausgehen,
dass die Tat vorbereitet und geplant war. Ein Schwert trägt man schließlich nicht
einfach mit sich herum. Der Täter hat der jungen Frau aufgelauert«, meinte Couvier
nachdenklich.
»Aber das muss nicht in letzter Konsequenz
auch bedeuten, dass er genau auf diese Frau gewartet hat. Möglicherweise lauerte
er in einem Versteck auf irgendein passendes Opfer. Damit nähern wir uns wieder
der Mutprobe«, führte Michael Wiener den Gedanken weiter aus.
»Er lässt das Opfer so liegen, dass es schnell
gefunden wird. Damit hat er sicher etwas bezweckt. Zum Beispiel, dass der Mord schnell
in die Zeitung kommt«, kehrte Emile wieder zu diesem wichtigen Umstand zurück.
Bevor sich die Diskussion vom ursprünglichen
Thema zu weit entfernen konnte, brachte Nachtigall sein Team wieder auf die Frage
nach dem Motiv zurück.
»Eine Bestrafung für Neugier müssen wir
auch mit in unsere Überlegungen einbeziehen. Daran haben wir vorhin schon einmal
gedacht. Sie steckt ihre Nase in Angelegenheiten, die sie nichts angehen, sieht
Dinge, die sie nicht zu interessieren haben, und spricht schlecht über andere.«
»Ohne Informationen zu ihrem privaten Hintergrund
können wir all das nicht klären«, stellte Skorubski unzufrieden fest.
Nachtigall seufzte.
»Wir werden morgen die ersten Berichte bekommen.
Die Obduktion kann uns weiterhelfen, und eventuell finden wir Zeugen, die den Täter
beobachtet haben. Schluss für heute. Wir treten auf der Stelle!«
Es klopfte, und Dr. März schob seine massige Gestalt in
Nachtigalls Büro. Er nickte allen knapp zu, griff wortlos nach einem Stuhl und setzte
sich so, dass er die Pinnwand mit den Tatortfotos im Rücken hatte.
»Wir wissen nicht, wer sie ist?«, fragte
er.
»Nein. Bisher existiert keine passende Vermisstenmeldung,
niemand, der nach ihr gefragt hätte. Der Mord ist vor wenigen Stunden passiert –
wahrscheinlich fällt es erst morgen im Laufe des Tages jemandem auf, dass sie verschwunden
ist.«
»Hm«, grunzte der Staatsanwalt nach einem
schnellen Blick auf seine Uhr zustimmend. »Ich habe übrigens Dr. Pankratz gebeten,
die Obduktion durchzuführen. Ich weiß, dass Sie gerne und gut mit ihm zusammenarbeiten,
und gerade in einem so gelagerten Fall erscheint mir eine reibungslose Kommunikation
besonders wichtig.«
»Ja, wir haben ja auch schon eine Reihe
von Fällen gemeinsam gelöst. Auf ihn ist Verlass. Aber – was heißt, in einem so
gelagerten Fall? Wie ist er denn gelagert?«, hinterfragte Peter Nachtigall die Formulierung
des Staatsanwalts.
Dr. März wand sich unbehaglich auf seinem
Stuhl.
»Nun gut – gibt es Hinweise auf einen fremdenfeindlichen
Hintergrund?«
»Ist es denn nicht fremdenfeindlich genug,
dass jemand sie getötet hat?«, empörte sich Michael Wiener.
»Mord ist menschenfeindlich – fremdenfeindlich
wird er durch das Motiv!«, stellte Nachtigall klar. »Und das kennen wir noch nicht.«
»Demnach halten Sie es aber durchaus für
möglich, dass diese junge Frau ihrer Abstammung wegen sterben musste?«, versuchte
Dr. März seinen ermittelnden Hauptkommissar zu einer Festlegung zu nötigen.
»Nein, ich kann zu diesem Zeitpunkt nur
nichts ausschließen. Wir haben noch keine Tatzeugen, die Lebensumstände des Opfers
sind uns nicht bekannt – ja, wir wissen noch nicht einmal, um wen es sich handelt«,
konterte Nachtigall.
»Gut. Dann finden Sie es raus.« Damit erhob
sich Dr. März, fügte »Und Sie sollten sich damit beeilen!« hinzu und zog geräuschvoll
die Tür hinter sich ins Schloss.
6
Haiti
Der Bokor lebte abseits der Siedlung im Wald. Sein kleines
Haus war schwer zu entdecken, nur Eingeweihte fanden überhaupt den Weg zu ihm. Damit
war auch sichergestellt, dass ihr Anliegen ihnen wichtig genug war, den richtigen
Pfad zu suchen.
Der große, hagere Mann, dessen Zauberkünste
weit über sein Dorf hinaus bekannt waren, warf einen Blick aus dem Fenster. Warme
Luft streifte sein markantes Gesicht, dem die stoppelkurzen, weißen Haare zusätzliche
Schärfe verliehen. Im Hof liefen einige Hühner gackernd umher, ein Nashornleguan
sonnte sich auf der Mauer, und aus dem nahen Wald drangen die lauten Rufe der Affen
bis zu ihm herüber. Sein Blick schweifte über das Stück Grasland bis zum Waldrand.
Niemand war zu sehen.
Einsamkeit gehörte zum Leben eines Bokors,
sie war geradezu Bedingung für das, was er zu tun pflegte. Im Stall meckerte eine
Ziege. Der Lohn für seine Arbeit. Es war durchaus üblich, seine Dienste in
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