Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
immer neu vergegenwärtigen will«, meinte Nachtigall.
»Es könnt ja auch sein, dass es ein Auftragsmord
war. Dann braucht er die Auge’ vielleicht als Beweis dafür, dass die Order ausg’führt
wurde«, steuerte Michael Wiener eifrig bei und erntete einen gereizten Blick Nachtigalls.
»Michael, vielleicht solltest du doch mal
was anderes lesen! Baldacci bekommt dir nicht, hier sind keine Fantasien zu Geheimdienstverschwörungen
gefragt. Du ermittelst in Cottbus, nicht in den USA!«
»Es könnte sich auch um eine Mutprobe im
ausländerfeindlichen Milieu handeln«, gab Couvier zu bedenken.
»Wie kommst du auf so etwas? Gab’s das schon
mal irgendwo?«, fragte Nachtigall entsetzt.
»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber wäre
es nicht denkbar?«
»Gut, ich behalte es im Gedächtnis – auch
wenn ich mir nicht vorstellen möchte, dass bei uns Menschen sterben müssen, weil
andere einen Mord als Mutprobe fordern.«
»Es wird manchmal aus banaleren Gründen
getötet«, erinnerte ihn Couvier, und Nachtigall nickte. Er wusste nur zu gut, wie
recht der Profiler hatte.
»Ich dacht’ immer, solch fremdenfeindliche
Übergriffe finde’ spontan statt. Es ergibt sich zufällig eine Gelegenheit, und die
wird brutal ausg’nutzt«, meldete sich Wiener zu Wort.
»Wir haben doch bestimmt Informanten aus
diesem Milieu? Wir werden die Kollegen ansprechen, und die sollen versuchen herauszufinden,
ob jemand mit dem Mord prahlt, ob er ›in Auftrag‹ gegeben wurde, ob überhaupt darüber
gesprochen wird – und natürlich, was diskutiert wird. Michael, kümmerst du dich
darum?«
Wiener nickte und machte sich Notizen.
»Was bleibt noch?«, führte Skorubski sie
wieder zum Fall zurück.
»Raubmord? Eine Tasche haben wir schließlich
nicht bei ihr gefunden. Da sie aber weder Schlüssel noch Brieftasche in der Jacke
hatte, muss sie wohl eine bei sich gehabt haben. Meiner Erfahrung nach stecken Frauen
solche Dinge nicht gerne in die Anoraktaschen, weil es so aufträgt. Vielleicht war
es auch ein Rucksack. Allerdings sind bei Raubmord als Motiv Amputationen nicht
nachvollziehbar. Sexualstraftat? Können wir auch nicht ausschließen – es gibt Täter,
die ihre Opfer nach der Tat wieder ankleiden. Rache? Wut? Hass? Dazu würde gut passen,
dass der Mörder sein Opfer selbst über den Tod hinaus misshandelte«, zählte Nachtigall
auf.
»Aber warum hat er dann die Tasche mitgenommen?
Um uns die Arbeit zu erschweren?«, fragte Wiener.
»Also – sortieren wir, was wir schon haben.«
Nachtigall stand auf und steckte ein großes Blatt Papier mit Nadeln neben den Fotos
fest.
»Motive?«
»Hautfarbe. Dr. März glaubt an einen politisch-rassistischen
Hintergrund«, warf Couvier in die Runde.
»Dazu gehört dann auch die Theorie über
die Mutprobe!«, rief Wiener.
»Geldgier, vielleicht Beschaffungskriminalität?«
»Vergeltung, Bestrafung.«
»Neid. Sie war vielleicht hübsch?« Albrecht
Skorubski runzelte die Stirn. »Jemand hat seine Frau mit ihr betrogen. Und ein anderer
wollte dieses Verhältnis beenden, weil er sie selbst nicht besitzen konnte – oder
sie musste aus Rache sterben, weil zum Beispiel eine eifersüchtige Ehefrau dahinterkam.«
»Der Täter ließ das Opfer so zurück, dass
es auf jeden Fall schnell gefunden werden musste«, murmelte Couvier nachdenklich.
»Vielleicht wollte er ein Zeichen setzen?«
»Angenommen, Albrecht kommt der Wahrheit
sehr nahe, dann könnte der Mörder mit den Verstümmelungen wirklich ein Zeichen gesetzt
haben, das bedeutet: So ergeht es Frauen, die sich in Beziehungen drängen.« Nachtigall
schrieb hastig mit und hoffte, er würde später noch entziffern können, was dort
stand.
»Aber wenn der Auslöser für den Mord die
Hautfarbe war, passen die Indizien ebenfalls recht gut zusammen. Fremde schnüffeln
hier rum, spionieren uns aus, sprechen nicht einmal unsere Sprache …«, gab Couvier
zu bedenken.
»Nase, Augen, Ohren, Mund.«
»Und was ist mit dem Loch in der Stirn?
Und ein Schwert als Tatwaffe in der Hand eines gewaltbereiten Rechten?« Nachtigall
schüttelte den Kopf. »Nein, das erscheint mir konstruiert.«
»Ein Schwert könnt’ jemandem aufg’falle
sein. Es ist immerhin eine ziemlich lange Waffe. Wir müsse’ abwarte’, ob die Befragunge’
durch die Kollege’ Hinweise erbringe’. Denkbar wäre doch, dass Gäste der Jugendherberge
jemanden bemerkt haben, der solch eine Waffe bei sich trug«, meinte Michael Wiener
hoffnungsvoll.
»Auf jeden Fall müssen wir wohl
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