Worum Es Geht
Staat und Kapital wie nichts anderes.
Wir können in Deutschland eine klassenbewusstere Arbeiterklasse, wie etwa in Frankreich, noch so sehr herbeisehnen, es ist vergeblich (was nicht heißt, dass der herrschende Block dort weniger reaktionär und gefährlich wäre als hier). Auch die in den Köpfen manch lateinamerikanischer Bevölkerungen verankerte Klarheit über die kapitalistische Welt können wir den Deutschen so wenig einimpfen wie die lebendig-kämpferische Radikalität mancher südeuropäischer Demonstrationen.
Was in Zeiten der Krise gelernt wird, ist ambivalent. Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen sind verarmt. Infolge der »Rettungsmaßnahmen« fürs Kapital und für die Banken verkümmern Kommunen – was wiederum die Lage der sozial Benachteiligten verschlimmert. Wenn sich aber die stets verheißungsvollen Zukunftsaussichten auch für die Mittelschicht trüben, deren Kinder nun, obwohl akademisch gebildet, keine Jobs mehr bekommen, wenn Hypothekenraten auch von bisher materiell Gesicherten nicht mehr bedient werden können und sich Perspektiven in Luft auflösen? Dann erfährt der Staat auch Proteste von ungewohnter Seite, die – falls sie mit den emanzipatorischen Protesten anderer verschmelzen – eine Gefahr für ihn bedeuten. Denn der Staat kann nicht mehr sein, was der »normale Bürger« von ihm erwartet. Er verliert an Autorität und steckt in einer tiefen Legitimationskrise. Aber die kann auch eine weitere Rechtsverschiebung bedeuten, das ist die Dialektik der Krise.
Deutschland gehört noch zu den Staaten der Welt, die von der Krise relativ profitieren. Die deutschen Niedriglöhne ließen die deutsche Exportquote in den Himmel schießen, darüber brachen Märkte in anderen europäischen Staaten zusammen, unter anderem weil sie die Rechnungen für deutsche Produkte, auch für Rüstungsgüter, nicht mehr bezahlen konnten. Über Deutschland steht gleichsam das Auge des Hurrikans, die wirklich vernichtenden Stürme peitschen über andere Teile Europas und der Welt hinweg. Mächtige Kapitalfraktionen, die von der Krise, die sie verursacht haben, nun auch profitieren, konnten sich stets auf willfährige Regierungen stützen. SPD und Grüne dürfen hoffen, dass die sozialen Verbrechen ihrer Regierungszeit (1998–2005), darunter die einschneidenden Steuerersparnisse für Reiche, die Deregulierung der Finanzmärkte, die Aufweichung von Tarifverträgen sowie die immense Verarmung großer Bevölkerungsschichten, schnell vergessen und am besten der politischen Konkurrenz von CDU/CSU und FDP angelastet werden, die ja kein bisschen besser ist.
Wie geht der Staat vor, um die Gefahr sozialer Unruhen zu bändigen? Er hat längst gelernt, nicht alle Opponierenden auf die gleiche Weise zu behandeln. Seine Erfahrungen mit der außerparlamentarischen Opposition der 1960er und 1970er Jahre lehrten ihn, dass zu viele Knüppel, die gleichzeitig auf zu vielen verschiedenen Köpfen zerdroschen werden, das soziale Lernen beschleunigen und selbstbewusste Widerstandskollektive gegen Staat und Kapital gedeihen lassen.
Der Staat muss seine Repressionen den verschiedenen sozialen Milieus immer feiner anpassen, um den Widerstand zu spalten, ihn zu schwächen und zu marginalisieren. Alle politischen Generationen der neuen Linken – ich kalkuliere pro »Generation« rund vier Jahre – haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Erfahrungen von Ignoranz, Demütigung, Überwachung, Verfolgung und oft auch nackter Repression gemacht. Alle, die sich widerständig organisierten, wurden überwacht und erfasst. Besonders brachial ging der Staat gegen junge Linke vor, die sich – ob in Wohngemeinschaften, Cafés, Parks, auf Straßen oder in Universitäten – neu organisierten. Der reine aufmüpfige Gedanke, solange er in Salons und Elfenbeintürmen verbleibt, ist meist ungefährlich. Geht er aber auf die Straße und organisiert sich, wird die Sache ernst. Der Staat versucht systematisch, solche jungen Linken einzuschüchtern.
Was also tun? Jede Behinderung der Beladung eines Frachters mit hochgiftigem Computerschrott oder Rüstungsgütern lässt anderswo weniger Menschen an Krebs und Krieg sterben. Jeder Belagerung eines Chemiekonzerns, einer Atomanlage, eines Rüstungsbetriebs oder des Bauplatzes der Europäischen Zentralbank geht eine Analyse voraus, welche die Aktion begründet und vorbereitet. Jede konkrete Praxis verlangt die Einübung von Kritik, technischen Fertigkeiten und von Solidarität. Wenn
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