Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Löwenzahnblätter zum Abendbrot, sonst nichts.
    Keine einzige dieser Behauptungen – nicht einmal die über die Löwenzahnblätter – war völlig erlogen. Ich hatte von solchen Dingen gehört. Das mit den Wasserklosetts kam vielleicht der Wahrheit am nächsten, aber es traf nur auf Leute zu, die auf dem Lande lebten, nicht in der Stadt, und noch dazu in der Mehrzahl der Generation meiner Eltern angehörten. Aber während ich mit Mary Anne redete, ergriffen all diese vereinzelten Vorfälle und bizarren Begebenheiten immer mehr von mir Besitz, sodass ich fast daran glaubte, ich sei selbst mit blau gefrorenen Füßen über eisigen Schlamm gelaufen – ich, der Lebertran und Impfungen zugute gekommen waren und die für den Schulweg so eingemummelt worden war, dass sie fast erstickte, und die nur hungrig zu Bett gegangen war, weil sie sich geweigert hatte, solche Sachen wie Dickmilch oder Brotsuppe oder gebratene Leber zu essen. Und dieser falsche Eindruck, den ich vermittelte, schien gerechtfertigt, als seien meine Übertreibungen oder Halbwahrheiten ein Ersatz für etwas, das ich nicht verdeutlichen konnte.
    Wie sollte ich zum Beispiel den Unterschied zwischen der Küche der Mountjoys und unserer Küche zu Hause verdeutlichen? Es reichte nicht, vom vollkommen neuen und glänzenden Fußboden in der einen und dem abgetretenen Linoleum in der anderen zu reden, oder von dem Regenwasser, das aus einer Zisterne per Hand in die Spüle gepumpt wurde, im Gegensatz zu dem kalten und warmen Wasser, für das man hier nur die Hähne aufzudrehen brauchte. Man hätte sagen müssen, dass es sich im einen Fall um eine Küche handelte, die der aktuellen Vorstellung von dem, was eine Küche zu sein hatte, mit absoluter Korrektheit entsprach, und im anderen um eine Küche, die sich gelegentlich mit der Benutzung und entsprechenden behelfsmäßigen Vorrichtungen veränderte, sich aber in vieler Hinsicht überhaupt nicht veränderte und ganz und gar zu einer Familie gehörte und zu den Jahren und Jahrzehnten des Lebens dieser Familie. Und wenn ich an diese Küche dachte mit dem kombinierten Holz- und Elektroherd, den ich mit gewachstem Butterbrotpapier sauber wischte, den dunklen, alten Gewürzdosen mit ihren rostigen Rändern, die Jahr um Jahr in den Schränken blieben, den Stallkitteln, die an der Tür hingen, schien es, als müsste ich sie vor Verachtung schützen – als müsste ich eine ganze kostbare und vertraute, obwohl kaum bequeme Lebensweise vor Verachtung schützen. Verachtung war in meiner Vorstellung etwas, das ständig lauerte, in elektrisch geladenen Drähten überall, gleich unter der Haut und gleich hinter den zur Schau getragenen Mienen von Leuten wie den Mountjoys.
    »Das ist ungerecht«, sagte Mary Anne. »Das ist schrecklich. Ich wusste gar nicht, dass man Löwenzahnblätter essen kann.« Doch dann hellte ihre Miene sich auf. »Warum gehen sie nicht angeln und fangen ein paar Fische?«
    »Leute, die die Fische nicht brauchten, sind gekommen und haben alle weggefangen. Reiche Leute. Zum Spaß.«
    Natürlich fingen einige Leute zu Hause Fische, wenn sie Zeit hatten, obwohl andere, darunter auch ich, die Fische aus unserem Fluss zu grätig fanden. Aber ich dachte, das würde Mary Anne den Mund stopfen, zumal ich wusste, dass Mr Mountjoy mit seinen Freunden Angeltouren unternahm.
    Sie konnte nicht aufhören, über das Problem nachzugrübeln. »Können sie nicht zur Heilsarmee gehen?«
    »Sie sind zu stolz.«
    »Na, dann tun sie mir leid«, sagte sie. »Sie tun mir wirklich leid, aber ich finde das blöd. Was ist mit den Babys und den kleinen Kindern? An die müssten sie doch denken. Sind die kleinen Kinder auch zu stolz?«
    »Alle sind stolz.«
     
    Wenn Mr Mountjoy an den Wochenenden auf die Insel kam, gab es immer viel Lärm und Betriebsamkeit. Zum Teil, weil Gäste mit Booten kamen, um zu baden, etwas zu trinken und Segelregatten zu beobachten. Aber viel davon wurde von Mr Mountjoy selbst verursacht. Er hatte eine laute, polternde Stimme und einen dicken Körper mit einer Haut, die nie braun wurde. Jedes Wochenende wurde er rot von der Sonne, und unter der Woche schälte sich die verbrannte Haut ab und hinterließ ihn rosa und schmuddelig von Sommersprossen, bereit, sich den nächsten Sonnenbrand zu holen. Wenn er die Brille abnahm, konnte man sehen, dass das eine Auge sich rasch bewegte und blinzelte, während das andere blau starrte, hilflos, als säße es in einer Falle gefangen.
    Sein Gepolter hatte oft Dinge

Weitere Kostenlose Bücher