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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dem ich nun leben und mir alles vertraut machen musste. Und alles wurde mir auch vertraut, zumindest die Orte, an denen meine Arbeit stattfand und zu denen ich hindurfte. Denn es gab eine
Barriere
. Vielleicht ist Barriere ein zu krasses Wort – es gab kein Verbot, sondern eher so etwas wie ein Schimmern in der Luft, eine kaum spürbare Mahnung.
Nicht für dich
. Nichts, was gesagt oder ausgeschildert werden musste.
    Nicht für dich
. Und obwohl ich sie spürte, mochte ich mir nicht recht eingestehen, dass es diese Barriere gab. Ich mochte mir nicht eingestehen, dass ich mich je gedemütigt fühlte oder einsam oder zum Dienstpersonal gehörig. Aber ich hörte auf, daran zu denken, den Pfad zu verlassen und mich auf Erkundungstour unter die Bäume zu begeben. Wenn jemand mich dabei gesehen hätte, hätte ich erklären müssen, was ich dort trieb, und der Herrschaft – Mrs Mountjoy – hätte das nicht gefallen.
    Und um die Wahrheit zu sagen, war es gar nicht so viel anders als Zuhause, wo einem jede unpraktische Beschäftigung mit Feld und Flur oder eine Schwärmerei für die Natur – sogar schon der Gebrauch dieses Wortes,
Natur
 – Gelächter eintragen konnte.
     
    Mary Anne redete gern, wenn wir abends in unseren Betten lagen. Sie erzählte mir, ihr Lieblingsbuch sei
Kon-Tiki
und sie glaube nicht an Gott oder den Himmel.
    »Meine Schwester ist tot«, sagte sie. »Und ich glaube nicht, dass sie irgendwo in einem weißen Nachthemd herumschwebt. Sie ist einfach tot. Sie ist einfach nichts.«
    »Meine Schwester war hübsch«, sagte sie. »Jedenfalls im Vergleich zu mir. Mutter war nie hübsch, und Daddy ist richtig hässlich. Tante Margaret war mal hübsch, aber jetzt ist sie dick, und Oma war auch mal hübsch, aber jetzt ist sie alt. Meine Freundin Helen ist hübsch, aber meine Freundin Susan nicht. Du bist hübsch, aber das zählt nicht, denn du bist das Dienstmädchen. Verletzt es deine Gefühle, wenn ich das sage?«
    Ich sagte nein.
    »Ich bin das Dienstmädchen ja nur, wenn ich hier bin.«
    Nicht, dass ich die einzige Bedienstete auf der Insel war. Die anderen Dienstboten waren ein Ehepaar, Henry und Corrie. Sie fühlten sich nicht herabgesetzt durch ihre Stellungen – sie waren dankbar dafür. Sie waren vor ein paar Jahren aus Holland nach Kanada gekommen und von Mr und Mrs Foley eingestellt worden, Mrs Mountjoys Eltern. Ihnen gehörte die Insel, und sie wohnten in dem großen weißen Bungalow mit Markisen und Veranden, der die höchste Stelle der Insel krönte. Henry mähte den Rasen, kümmerte sich um die Tennisplätze, strich die Liegestühle frisch an und half Mr Foley mit den Booten und beim Reinigen der Wege und dem Reparieren des Landestegs. Corrie erledigte die Hausarbeit und kochte und sah nach Mrs Foley.
    Mrs Foley verbrachte jeden sonnigen Vormittag draußen in einem Liegestuhl, die Füße ausgestreckt, damit sie Sonne abbekamen, und mit einer kleinen Markise am Stuhl, die ihren Kopf schützte. Corrie kam heraus und schob sie dem Sonnenstand entsprechend herum und führte sie zur Toilette und brachte ihr Tassen mit Tee und Gläser mit Eiskaffee. Ich wurde Zeugin davon, wenn ich vom Haus der Mountjoys zum Haus der Foleys lief, um etwas auszurichten oder etwas in die Tiefkühltruhe zu legen oder herauszuholen. Tiefkühltruhen waren zu der Zeit in Privathaushalten noch eine Neuheit und ein Luxus, und in dem Haus der Mountjoys gab es keine.
    »Nicht die Eiswürfel lutschen«, hörte ich Corrie zu Mrs Foley sagen. Was Mrs Foley offenbar nicht kümmerte, denn sie lutschte weiter an einem Eiswürfel, und Corrie sagte: »Pfui. Nein. Spuck’s aus. Spuck’s Corrie in die Hand. Pfui. Du hast nicht gemacht, was Corrie gesagt hat.«
    Als sie mich auf dem Weg ins Haus einholte, sagte sie: »Ich sage denen, sie kann daran ersticken. Aber Mr Foley sagt immer, geben Sie ihr die Eiswürfel, sie will einen Drink wie alle anderen auch. Also rede ich und rede. Nicht die Eiswürfel lutschen. Aber sie hört nicht auf mich.«
    Manchmal wurde ich hinaufgeschickt, um Corrie beim Polieren der Möbel oder Bohnern der Fußböden zu helfen. Sie war sehr streng. Sie wischte die Arbeitsflächen in der Küche nicht einfach ab, sondern scheuerte sie ab. Jede Bewegung, die sie machte, hatte die Energie und Konzentration von jemandem, der ein Boot gegen den Strom rudert, und jedes Wort, das sie sagte, wurde ausgerufen wie in starkem Gegenwind. Wenn sie einen Putzlappen auswrang, war es, als drehte sie einem Huhn den Hals um.

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