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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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stehen lassen, weil Dawna den Unterschied sowieso nicht wissen würde. Aber ich merkte, dass der Teil mit Mr Hammond übertrieben war, sogar für einen solchen Brief, und dann erfüllte mich der ganze Brief mit Scham und einem Gefühl von eigenem Versagen und von Verlassenheit. Ich zerknüllte ihn. Der Brief hatte ohnehin nur den Sinn gehabt, mir selbst zu versichern, dass ich Verbindungen zur großen Welt hatte und aufregende Dinge – sexueller Natur – erlebte. Dabei hatte ich keine. Und erlebte keine.
     
    »Mrs Foley hat mich gefragt, wo Jane ist«, hatte ich gesagt, als Mrs Mountjoy und ich das Silber putzten – oder vielmehr, als sie ein Auge auf mich hatte, während ich das Silber putzte. »War Jane eins von den Mädchen, die hier im Sommer gearbeitet haben?«
    Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde nicht antworten, doch sie tat es.
    »Jane war meine andere Tochter«, sagte sie. »Sie war Mary Annes Schwester. Sie ist gestorben.«
    Ich sagte: »Oh. Das wusste ich nicht.« Ich sagte: »Oh. Das tut mir leid.«
    »Ist sie an Kinderlähmung gestorben?«, fragte ich, weil ich nicht das Taktgefühl oder, könnte man auch sagen, nicht den Anstand besaß, es gut sein zu lassen. Und zu jener Zeit starben immer noch Kinder an Kinderlähmung, jeden Sommer.
    »Nein«, sagte Mrs Mountjoy. »Sie ist ums Leben gekommen, als mein Mann die Frisierkommode in unserem Schlafzimmer verrückt hat. Er suchte etwas und dachte, es könnte dahinter gefallen sein. Er hat nicht gemerkt, dass sie im Weg war. Eine der Laufrollen ist am Teppich hängengeblieben, und das ganze Ding ist auf sie draufgefallen.«
    Ich wusste natürlich bis in die Einzelheiten davon. Mary Anne hatte mir alles erzählt. Sogar schon, bevor Mrs Foley mich fragte, wo Jane sei, und mir die Brust zerkratzte.
    »Wie schrecklich«, sagte ich.
    »Je nun. Solche Dinge passieren eben.«
    Meine verlogene Neugier bereitete mir Übelkeit. Ich ließ eine Gabel zu Boden fallen.
    Mrs Mountjoy hob sie auf.
    »Denk dran, diese noch einmal abzuwaschen.«
    Wie merkwürdig, dass ich überhaupt nicht mein Recht in Frage stellte, die Nase hineinzustecken, zu bohren und so etwas ans Licht zu bringen. Ein Grund dafür muss gewesen sein, dass in der Gesellschaft, aus der ich kam, solche Dinge nie für alle Zeit begraben waren, sondern einem Ritual folgend immer wieder zum Leben erweckt wurden, und dass solche Schrecknisse wie ein Orden waren, den die Menschen – oder hauptsächlich die Frauen – ihr Leben lang trugen.
    Es mag auch daran gelegen haben, dass ich nie ganz aufgab, wenn es darum ging, Nähe oder zumindest eine Art von Gleichgestelltheit zu fordern, sogar zu einer Person, die ich nicht mochte.
    Grausamkeit war etwas, das ich in mir nicht zu erkennen vermochte. Ich fand, mir war hier nichts vorzuwerfen, ebenso wenig wie meinem übrigen Verhalten dieser Familie gegenüber. Alles, weil ich jung war und arm und über Nausikaa Bescheid wusste.
    Ich besaß weder den Takt noch das Selbstbewusstsein, um Dienerin zu sein.
     
    An meinem letzten Sonntag war ich allein im Bootshaus und packte meine Sachen in den Koffer, den ich mitgebracht hatte – derselbe Koffer, der meine Mutter und meinen Vater auf ihrer Hochzeitsreise begleitet hatte, und der einzige, den wir im Haus hatten. Als ich ihn unter meinem Feldbett hervorzog und aufklappte, roch er nach Zuhause – nach dem Wandschrank am Ende des oberen Flurs, wo er sonst stand, neben den eingemotteten Wintermänteln und dem Gummilaken, das in den Kinderbetten gelegen hatte. Aber wenn man ihn zu Hause herausholte, roch er immer schwach nach Eisenbahnen und Kohlenfeuern und Großstädten – nach großer Reise.
    Ich hörte Schritte auf dem Weg, einen stolpernden Schritt ins Bootshaus, dann wurde an die Wand geklopft. Es war Mr Mountjoy.
    »Bist du oben? Bist du oben?«
    Seine Stimme war laut und fröhlich, wie ich sie schon gehört hatte, wenn er etwas getrunken hatte. Wie natürlich auch jetzt – denn wieder einmal waren Gäste da, um das Ende des Sommers zu feiern. Ich trat ans obere Ende der Treppe. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab – ein Boot war draußen vorbeigefahren und schickte seine Wellen ins Bootshaus.
    »Sieh mal«, sagte Mr Mountjoy und schaute mit stirnrunzelnder Konzentration zu mir hoch. »Sieh mal – ich dachte, ich kann es ebenso gut herbringen und dir geben, wenn ich schon mal daran denke.«
    »Das Buch«, sagte er.
    In der Hand hielt er die
Sieben phantastischen

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