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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Geschichten
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    »Denn ich habe dich neulich hineinschauen sehen«, sagte er. »Es schien dich zu interessieren. Ich habe es inzwischen ausgelesen, und da habe ich gedacht, ich kann es an dich weitergeben. Ist mir eingefallen. Ich dachte, vielleicht hast du Spaß daran.«
    Ich sagte: »Danke.«
    »Ich werde es wahrscheinlich nicht noch einmal lesen, obwohl ich es sehr interessant fand. Sehr ungewöhnlich.«
    »Vielen Dank.«
    »Schon gut. Ich dachte, vielleicht hast du Spaß daran.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Na, dann. Hoffentlich hast du Spaß daran.«
    »Danke.«
    »Na, dann«, sagte er. »Leb wohl.«
    Ich sagte: »Danke. Leben Sie wohl.«
    Warum verabschiedeten wir uns, obwohl wir sicher waren, uns noch einmal zu begegnen, bevor wir die Insel verließen oder bevor ich in den Zug stieg? Es konnte bedeutet haben, dass dieser Vorfall, mir das Buch zu schenken, als Abschluss gelten sollte und dass ich ihn nicht weitererzählen oder erwähnen sollte. Was ich auch nicht tat. Oder vielleicht lag es einfach nur daran, dass er betrunken war und sich nicht klarmachte, dass er mir später noch einmal begegnen würde. Betrunken oder nicht, ich sehe ihn heute rein von Motiven, an die Bootshauswand gelehnt. Ein Mensch, der mich für wert hielt, mir dieses Buch zum Geschenk zu machen.
    Damals jedoch war ich nicht besonders angenehm berührt oder dankbar, trotz meiner vielen Dankeschöns. Ich war zu erschreckt, und auch verlegen. Der Gedanke, dass eine kleine Ecke meines Wesens ans Licht gekommen und wahrhaft verstanden worden war, verstörte mich, geradeso wie es mich vergrollte, wenn man keine Notiz von mir nahm. Und Mr Mountjoy war wahrscheinlich der Mensch, der mich am wenigsten interessierte, dessen Achtung mir am wenigsten bedeutete, von all den Menschen, denen ich in diesem Sommer begegnet war.
    Er verließ das Bootshaus, und ich hörte ihn den Weg hochstapfen, zurück zu seiner Frau und seinen Gästen. Ich schob den Koffer beiseite und setzte mich aufs Bett. Ich schlug das Buch irgendwo auf, genau wie beim ersten Mal, und begann zu lesen.
    Die Wände des Zimmers waren einmal karmesinrot angestrichen worden, das aber mit der Zeit zu einer Vielzahl von Farbtönen verblasst war, wie ein Strauß sterbender Rosen … Eine Duftmischung verbrannte im hohen Kachelofen, auf dessen Sims Neptun mit Dreizack sein Pferdegespann durch hohe Wogen lenkte …
    Ich vergaß Mr Mountjoy fast sofort. Binnen kürzester Zeit gelangte ich zu der Überzeugung, dass dieses Buch mir schon immer gehört hatte.

Die Schiene
    Manchmal träume ich von meiner Großmutter und ihrer Schwester, meiner Tante Charlie – die natürlich nicht meine Tante, sondern meine Großtante war. Ich träume, dass sie immer noch in dem Haus leben, in dem sie ungefähr zwanzig Jahre lang wohnten, bis zum Tode meiner Großmutter und Tante Charlies Einweisung in ein Pflegeheim, die bald danach erfolgte. Ich bin entsetzt, dass sie noch am Leben sind, und ich schäme mich bei dem Gedanken, dass ich sie in all der Zeit nicht ein einziges Mal besucht habe. Vierzig Jahre oder mehr. Ihr Haus ist so wie immer, wenn auch voller Zwielicht, und sie selber sind ziemlich unverändert – sie tragen dieselbe Art von Kleidern und Schürzen und Frisuren wie immer. Eingedrehte, herunterfallende Haare, die keinen Friseur kannten, Kleider aus dunkler Kunstseide oder Baumwolle, bedruckt mit Blümchen oder geometrischen Formen – keine Hosenanzüge, keine flotten Sprüche, keine türkisgrünen oder butterblumengelben oder pfingstrosenfarbenen Stoffe.
    Aber sie scheinen hauchdünn zu sein, sich kaum zu bewegen, nur mit Mühe ihre Stimmen zu erheben. Ich frage sie, wie sie zurechtkommen. Wie kommen sie zum Beispiel an ihre Lebensmittel? Sehen sie fern? Wissen sie, was in der Welt vorgeht? Sie sagen, sie kommen zurecht. Keine Sorge. Aber jeden Tag haben sie gewartet, gewartet, ob ich nicht komme.
    O mein Gott. Jeden Tag, und selbst jetzt bin ich in Eile, ich kann nicht bleiben. Ich sage ihnen, dass ich sehr viel zu tun habe, aber bald wiederkommen werde. Sie sagen ja, ja, das ist schön. Bald.
     
    Zu Weihnachten sollte ich heiraten und anschließend in Vancouver wohnen. Es war das Jahr 1951 . Meine Großmutter und Tante Charlie – die eine jünger, die andere älter, als ich jetzt bin – packten die Schrankkoffer voll, die ich mitnehmen würde. Einer davon war ein stabiler alter, buckliger Schrankkoffer und schon seit langer Zeit in Familienbesitz. Ich überlegte laut, ob er mit unseren

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