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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht mehr so leicht zu finden, obwohl sie es so lange beherrschte, erst mit dem, was für uns ihr peinlicher Ehrgeiz war, und dann mit ihren ebenso peinlichen, wenn auch gerechtfertigten Beschwerden. Von ihrer Krankheit war damals so wenig bekannt, und sie war so bizarr in ihren Auswirkungen, dass uns der Verdacht kam, sie habe sich aus lauter Trotz genau darauf versteift, um sich unsere Aufmerksamkeit zu sichern, um ihrem Leben größere Dimensionen zu geben. Aufmerksamkeit, die ihre Familie ihr zwangsweise zuwenden musste, nicht völlig widerwillig, aber doch so gewohnheitsmäßig, dass sie kalt, ungeduldig und lieblos wirkte – und manchmal auch war. Und außerdem nicht genügte, ihr nie genügte.
    Die Bücher, die früher überall im Haus unter Betten und auf Tischen umherlagen, sind von Irlma aufgehoben, eingesammelt und zusammengepfercht worden, im Bücherschrank im Vorderzimmer, hinter verschlossenen Glastüren. Mein Vater, der zu seiner Frau steht, berichtet, dass er kaum noch liest, weil er so viel zu tun hat. (Obwohl er gerne in den
Historischen Atlas
schaut, den ich ihm geschickt habe.) Irlma mag es nicht, wenn jemand liest, denn das ist nicht gesellig, und was hat man am Ende damit zustande gebracht? Sie findet, man ist besser dran, wenn man Karten spielt oder etwas anfertigt. Die Männer können tischlern, die Frauen können Quilts nähen oder Teppiche knüpfen oder häkeln oder sticken. Es gibt immer etwas zu tun.
    Im Gegensatz dazu respektiert sie es, dass mein Vater in seinen fortgeschrittenen Jahren zu schreiben begonnen hat. »Er schreibt sehr gut, außer wenn er zu müde wird«, hat sie zu mir gesagt. »Jedenfalls besser als du.«
    Ich brauchte einen Augenblick, bis ich dahinter kam, dass sie von der Handschrift redete. Das ist hier schon immer mit »schreiben« gemeint gewesen. Das andere hieß oder heißt »sich was aus den Fingern saugen«. Für sie sind die beiden irgendwie miteinander verbunden, und sie erhebt keine Einwände. Weder gegen das eine noch gegen das andere.
    »Dann hat sein Kopf was zu tun«, sagt sie.
    Kartenspielen, glaubt sie, würde auch dafür sorgen. Aber sie hat nicht immer die Zeit, sich mitten am Tage dazu hinzusetzen.
    Mein Vater redet zu mir davon, die Verkleidung außen am Haus anzubringen. »Ich brauche so eine Arbeit, damit ich wieder in die Form komme, in der ich vor zwei Jahren war.«
    Vor etwa fünfzehn Monaten hatte er einen schweren Herzinfarkt.
    Irlma stellt Kaffeebecher hin, einen großen Teller mit hellen Keksen und Vollkornkeksen, Butter und Käse, Kleiebrötchen, Plätzchen und Gewürzkuchenstücke mit Zuckerguss.
    »Es ist nicht viel«, sagt sie. »Ich werde auf meine alten Tage faul.«
    Ich sage, dass das nie passieren wird, sie wird nie faul werden.
    »Der Kuchen ist sogar eine Backmischung, muss ich zu meiner Schande gestehen. Es kommt noch so weit, dass ich gekauften auftische.«
    »Er ist gut«, sage ich. »Einige Backmischungen sind wirklich gut.«
    »Das stimmt«, sagt Irlma.
     
    Harry Crofton – der stundenweise auf dem Putenhof arbeitet, auf dem mein Vater früher auch gearbeitet hat – schaut am nächsten Tag zur Essenszeit vorbei und wird nach einigen notwendigen und erwarteten Protesten zum Bleiben überredet. Essenszeit ist mittags. Es gibt Steaks, die geklopft, eingemehlt und im Backofen gegart worden sind, Kartoffelbrei mit Soße, gekochte Pastinaken, Weißkohlsalat, Kekse, Rosinenplätzchen, eingemachte Holzäpfel. Kürbiskuchen mit Marshmallow-Decke. Dazu Brot und Butter, diverse Relishes, Pulverkaffee und Tee.
    Harry gibt die Nachricht weiter, dass Joe Thoms, der weiter oben am Fluss in einem Wohnwagen ohne Telefon lebt, dankbar wäre, wenn mein Vater ihm einen Sack Kartoffeln vorbeibrächte.
    Er würde ja kommen und sie abholen, wenn er könnte, aber er kann nicht.
    »Das glaub ich gern«, sagt Irlma.
    Mein Vater entschärft diese Spitze, indem er zu mir sagt: »Er ist inzwischen fast blind.«
    »Findet kaum noch hin zum Schnapsladen«, sagt Harry.
    Alle lachen.
    »Er kann ja mit der Nase hinfinden«, sagt Irlma. Und wiederholt sich genüsslich, wie sie es oft tut. »Kann ja mit der Nase hinfinden!«
    Irlma ist eine beleibte und rosige Frau mit gefärbten, karamellbraunen Locken und braunen Augen, in denen es immer noch temperamentvoll blitzt, als sei sie ständig am Rande eines Heiterkeitsausbruchs. Oder am Rande ihrer Geduld und kurz vor einem Wutanfall. Sie bringt gern andere zum Lachen und lacht selbst gern. Dann wieder

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