Wozu wollen Sie das wissen?
seltsamen Wirbel und Wellen mehr zu dem bei, was durch sie zu sehen ist. Und was da zu sehen ist, das ist ohnehin nicht mehr die Sonnenhutstaude, die selten zurückgeschnitten wurde und die beiden unteren Scheiben verdeckte, oder der Obstgarten mit den schorfigen Apfelbäumen und den beiden Birnbäumen, die nie viele Früchte trugen, weil sie zu hoch oben im Norden standen. Jetzt ist dort nur ein langer, grauer, fensterloser Putenstall und ein Putenhof zu sehen, dem mein Vater ein Stück Land verkauft hat.
Die vorderen Zimmer sind neu tapeziert worden – weiß mit fröhlichem, aber förmlichem roten, geprägten Muster – und mit moosgrünem Teppichboden ausgelegt. Und weil sowohl mein Vater als auch Irlma in Häusern aufwuchsen und lebten, die mit Petroleumlampen beleuchtet waren, gibt es überall elektrisches Licht – Deckenlampen und Stehlampen, lange, blendend helle Röhren und Hundert-Watt-Birnen.
Sogar die Außenwände des Hauses, die roten Ziegel, deren bröckelnder Mörtel besonders den Ostwind durchließ, sollen mit weiß lackiertem Blech verkleidet werden. Mein Vater denkt daran, es selbst anzubringen. Und so entsteht bei mir der Eindruck, als könnte dieses besondere Haus – dessen Küchenteil um 1860 errichtet wurde – in gewisser Weise zersetzt werden und verloren gehen, innerhalb eines normalen, gemütlichen Hauses der Gegenwart.
Ich beklage diesen Verlust nicht, wie ich es früher getan hätte. Ich sage jedoch, dass die roten Ziegel eine schöne, weiche Farbe haben und dass ich von Leuten gehört habe (
Städtern
), die viel Geld für genau solche alten Ziegel bezahlen, aber ich sage das hauptsächlich, weil ich denke, dass mein Vater es nicht anders von mir erwartet. Ich bin jetzt in seinen Augen eine Städterin, und wann war ich je praktisch? (Das gilt nicht mehr als so großer Fehler wie früher, da ich meinen Weg gemacht habe, gegen alle Erwartungen, unter Leuten, die wahrscheinlich ebenso unpraktisch sind wie ich selbst.) Und er setzt gerne wieder auseinander, was der Ostwind anrichtete, wie viel Brennstoff er kostete, und welche Probleme Reparaturen bereiteten. Ich weiß, dass er die Wahrheit spricht, und ich weiß, dass das Haus, das verloren geht, in keiner Weise besonders schön oder besonders wohnlich war. Immer das Haus armer Leute, mit Treppen zwischen engen Wänden und Zimmern, die ineinander übergingen. Ein Haus, in dem Menschen über hundert Jahre lang am Hungertuch nagten. Wenn also mein Vater und Irlma den Wunsch haben, es sich gemütlich zu machen, indem sie ihre Renten zusammenlegen, was sie reicher macht, als sie je in ihrem Leben gewesen sind, wenn sie den Wunsch haben (sie benutzen dieses Wort ohne Anführungsstriche, ganz schlicht und bejahend),
modern
zu sein, welches Recht habe ich dann, mich darüber zu beklagen, dass ein paar Ziegelsteine und eine bröckelnde Mauer verloren gehen?
Aber es stimmt auch, dass mein Vater von mir Einwände, irgendeine Dummheit hören möchte. Und ich fühle mich verpflichtet, vor ihm die Tatsache zu verbergen, dass das Haus mir nicht mehr so viel bedeutet wie früher und dass es mir jetzt ziemlich egal ist, wie er es verändert.
»Ich weiß, wie sehr du diesen Ort liebst«, sagt er zu mir, entschuldigend, doch mit Befriedigung. Und ich sage ihm nicht, dass ich inzwischen nicht mehr genau weiß, ob ich irgendeinen Ort liebe, und dass es mir so vorkommt, als sei das, was ich hier geliebt habe, ich selbst gewesen – ein Ich, mit dem ich abgeschlossen habe, und das kein bisschen zu früh.
Ich gehe jetzt nicht mehr ins Vorderzimmer, um in der Klavierbank nach alten Fotos und Noten zu kramen. Ich suche nicht nach meinen alten Schulbüchern, meiner Anthologie romanischer Gedichte,
Maria Chapdelaine
. Oder nach den Bestsellern eines bestimmten Jahrgangs in den vierziger Jahren, als meine Mutter Mitglied im Book-of-the-Month-Club war – ein guter Jahrgang für Romane über die Frauen von Heinrich dem Achten, für Schriftstellerinnen mit zwei Vornamen und für verständnisvolle Bücher über die Sowjetunion. Ich schlage nicht die in weiches Lederimitat gebundenen »Klassiker« auf, von meiner Mutter vor ihrer Heirat gekauft, nur um auf dem marmorierten Vorsatzblatt ihren in anmutiger, artiger Lehrerinnenhandschrift geschriebenen Mädchennamen zu sehen, nach dem Gelöbnis des Verlegers:
Jedermann, will mit dir gehn und will dich leiten, in deiner größten Not bleib ich an deiner Seiten
.
Erinnerungen an meine Mutter sind in diesem Haus
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