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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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unübersichtliche Anhöhen hinaufrasen. Feiernde Autofahrer donnern immer wieder spät nachts ohne Licht durch die Dörfer, und die meisten erwachsenen Männer haben zumindest einen umgefahrenen Telegraphenmast oder eine Bruchlandung im Straßengraben überlebt.
     
    Mein Vater und meine Stiefmutter erzählen mir davon, wenn ich nach Hause komme. Mein Vater spricht nur von einem schrecklichen Unfall. Meine Stiefmutter wartet mit Einzelheiten auf. Enthauptung, ein Lenkrad, das den Brustkorb durchbohrte, eine Flasche, aus der jemand gerade trank, bevor sie das Gesicht entstellte.
    »Idioten«, sage ich. Nicht nur, weil ich einfach nichts für diese Kiesraser, diese Sturzbetrunkenen übrig habe. Sondern weil ich meine, dieses Gespräch, die genüssliche Ausführlichkeit meiner Stiefmutter, könnte meinem Vater peinlich sein. Später werde ich verstehen, dass es wahrscheinlich nicht so ist.
    »Das ist genau das richtige Wort für die«, sagt meine Stiefmutter. »Idioten. Sind doch alle selber schuld.«
    Ich sitze mit meinem Vater und meiner Stiefmutter – die Irlma heißt – am Küchentisch, und wir trinken Whisky. Der Hund Buster liegt zu Irlmas Füßen. Mein Vater gießt Roggenwhisky in drei Saftgläser, bis sie etwa zu drei Vierteln voll sind, dann füllt er sie mit Wasser auf. Solange meine Mutter lebte, gab es nie eine Flasche Schnaps in diesem Haus oder auch nur eine Flasche Bier oder Wein. Vor der Hochzeit hatte sie meinem Vater das Versprechen abgenommen, keinen Alkohol anzurühren. Nicht, weil sie in ihrem eigenen Zuhause unter trinkenden Männern gelitten hatte – zu jener Zeit war das ein Versprechen, das viele selbstbewusste Frauen verlangten, ehe sie sich einem Mann anheimgaben.
    Der hölzerne Küchentisch, an dem wir immer aßen, und die Stühle, auf denen wir dabei saßen, sind in die Scheune verbannt worden. Die Stühle passten nicht zueinander. Sie waren sehr alt, und ein paar kamen angeblich aus der sogenannten Stuhlwerkstatt – die wahrscheinlich nur eine Schreinerei war – in Sunshine, einem Städtchen, das am Ende des neunzehnten Jahrhunderts von der Landkarte verschwand. Mein Vater ist bereit, sie für ein Butterbrot zu verkaufen oder umsonst abzugeben, wenn jemand sie haben will. Er kann die Bewunderung für das, was er alten Pröhl nennt, einfach nicht verstehen und hält Leute, die sich dazu bekennen, für überkandidelt. Er und Irlma haben sich einen neuen Tisch gekauft, mit einer Oberfläche aus Plastik, die ähnlich wie Holz aussieht und unempfindlich gegen Flecke ist, und vier Stühle mit plastiküberzogenen Polstern, die ein Muster aus gelben Blumen haben und, um die Wahrheit zu sagen, wesentlich bequemer als die alten Holzstühle sind.
    Jetzt, wo ich nur hundert Meilen weit fort wohne, komme ich etwa alle zwei Monate nach Hause. Davor wohnte ich lange Zeit mehr als tausend Meilen weit fort und sah dieses Haus oft jahrelang nicht. Es war für mich damals ein Ort, den ich vielleicht nie wiedersehen würde, und ich war tief gerührt von den Erinnerungen daran. Ich ging im Geiste durch seine Zimmer. Alle diese Zimmer sind klein und, wie bei alten Farmhäusern üblich, nicht so angelegt, um Vorteile aus der Umgebung zu ziehen, sondern um sie, wenn möglich, außer Acht zu lassen. Vielleicht wollten die Menschen die Zeit, in der sie sich ausruhten oder Schutz suchten, nicht damit verbringen, auf die Felder hinauszuschauen, die sie bearbeiten mussten, oder auf die Schneewehen, durch die sie sich schaufeln mussten, um das Vieh zu füttern. Menschen, die die Natur offen bewunderten – oder auch nur so weit gingen, dieses Wort zu benutzen,
Natur –
, galten oft als ein bisschen übergeschnappt.
    Im Geiste, wenn ich weit fort war, sah ich auch die Küchendecke aus schmalen, gespundeten, rauchgeschwärzten Brettern und den Rahmen des Küchenfensters, angenagt von einem Hund, der vor meiner Zeit eingesperrt worden war. Die Tapete hatte verblassende Flecken von einem undichten Schornstein, und das Linoleum wurde von meiner Mutter in jedem Frühjahr, solange sie dazu noch in der Lage war, frisch gestrichen. Sie strich es in einer dunklen Farbe an – Braun oder Grün oder Marineblau –, und griff dann zu einem Schwamm, um es mit einem Muster aus hellen roten oder gelben Tupfen zu schmücken.
    Diese Decke ist jetzt hinter weißen Fliesen verborgen, und ein neuer Fensterrahmen aus Metall hat den alten, angenagten hölzernen ersetzt. Die Fensterscheiben sind auch neu und tragen keine

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