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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sie ihn geboren hatte. Das Leben eines Mannes ist voller Leid. Ich habe auch eine Tochter, die Älteste von allen, aber sie ist fast ein Zwerg. Ihre Mutter wurde von einem Widder gejagt, als sie mit ihr schwanger ging. Ich habe drei ältere Schwestern, die sind alle genauso, alles Zwerge.«
    Seine Reden übertönen das Stimmengewirr des Lebens an Bord, und jedes Mal, wenn seine Söhne ihn hören, stehlen sie sich vor tödlicher Verlegenheit in eine andere Richtung davon.
    Am Nachmittag des 14 . kam ein Wind aus dem Norden auf, und das Schiff begann zu schüttern, als werde sich jede Planke darin gleich von allen anderen lösen. Die Eimer flossen über von all den Leuten, die krank waren und sich erbrachen, und das ganze Deck war glitschig von deren Inhalt. Allen Menschen wurde befohlen, sich unter Deck zu begeben, aber viele von ihnen brachen an der Reling zusammen und gaben nichts darauf, ob sie über Bord gespült wurden. Aus unserer Familie war jedoch niemand krank, und jetzt hat sich der Wind gelegt, und die Sonne ist hervorgekommen, und jene, denen eben noch egal war, ob sie im Unrat sterben, sind aufgestanden und schleppen sich zu den Matrosen, die Eimer voll Wasser über das Deck kippen, um sich waschen zu lassen. Die Frauen haben damit zu tun, all die verschmutzte Kleidung zu waschen und auszuspülen und auszuwringen. Es ist das schlimmste Elend und die schnellste Gesundung, die ich je im Leben gesehen habe …
    Ein Mädchen von zehn oder zwölf Jahren steht da und schaut Walter beim Schreiben zu. Sie trägt ein feines Kleid und ein Häubchen und hat hellbraune, lockige Haare. Kein hübsches Gesicht, eher ein keckes.
    »Bist du aus einer der Kajüten?«, fragt sie.
    Walter sagt: »Nein. Bin ich nicht.«
    »Hab ich’s doch gewusst. Es gibt nämlich nur vier, eine ist für meinen Vater und mich, eine ist für den Kapitän, eine ist für seine Mutter, die nie rauskommt, und eine ist für die beiden Damen. Du darfst gar nicht auf diesem Teil des Decks sein, wenn du nicht aus einer der Kajüten bist.«
    »Das wusste ich nicht«, sagt Walter, macht aber keinerlei Anstalten, sich fortzubegeben.
    »Ich habe dich schon mal in dein Buch schreiben sehen.«
    »Ich hab dich nicht gesehen.«
    »Nein. Du hast geschrieben und nichts gemerkt.«
    »Jedenfalls«, sagt Walter, »bin ich jetzt damit fertig.«
    »Ich habe niemandem was von dir erzählt«, sagt sie leichthin, als stünde das ganz in ihrem Belieben und als könnte sie sich im nächsten Moment anders entscheiden.
     
    Am selben Tag, kaum eine Stunde später, erschallt ein lauter Ruf von Backbord, dass Schottland zum letzten Mal zu sehen ist. Walter und Andrew gehen hin, um es sich anzuschauen, auch Mary mit dem kleinen James auf der Hüfte und viele andere. Der alte James und Agnes gehen nicht – sie, weil sie jetzt keinerlei Neigung mehr hat, sich irgendwohin zu begeben, und er aus Widerborstigkeit. Seine Söhne haben ihn gedrängt hinzugehen, aber er hat gesagt: »Das bedeutet mir nichts. Ich habe Ettrick zum letzten Mal gesehen, also habe ich Schottland schon zum letzten Mal gesehen.«
    Es stellt sich heraus, dass die Aufforderung, Abschied zu nehmen, voreilig war – ein grauer Streifen Land wird noch stundenlang in Sicht bleiben. Viele werden bald müde, ihn anzustarren – es ist nur Land, wie jedes andere, doch einige werden an der Reling bleiben, bis der letzte Fetzen davon mit dem Tageslicht schwindet.
    »Du solltest gehen und deinem Heimatland Lebewohl sagen und auch deiner Mutter und deinem Vater, denn du wirst sie nicht wiedersehen«, sagt der alte James zu Agnes. »Und Schlimmeres noch wirst du erdulden müssen. Doch, noch Schlimmeres. Denn du trägst den Fluch der Eva.« Er sagt das mit dem salbungsvollen Behagen eines Predigers, und Agnes schimpft ihn einen alten Armleuchter, aber im Flüsterton, denn sie hat kaum noch die Kraft, auch nur ein böses Gesicht zu ziehen.
    Alter Armleuchter. Du und dein Heimatland
.
     
    Walter schreibt schließlich einen einzigen Satz nieder.
    Und heute Nacht im Jahre 1818 verloren wir Schottland aus den Augen.
    Die Worte kommen ihm erhaben vor. Ihn erfüllt ein Gefühl von Größe, Feierlichkeit und persönlicher Wichtigkeit.
    Der 16 . war ein stürmischer Tag mit Wind aus Südwest, das Meer schlug sehr hohe Wellen, und dem Schiff brach aufgrund der Heftigkeit des Windes der Klüverbaum. Und an diesem Tag kam unsere Schwester Agnes in die Kajüte.
    Schwester
hat er geschrieben, als sei sie für ihn dasselbe wie

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